Kapitel 3 – Ich will doch nur gucken

Ich will doch nur gucken

Die Idee kam spontan.
Wie die meisten schlechten Ideen.

Geraldine saß im Cockpit ihres T-6, die Füße auf dem Armaturenbrett, ein leerer Kaffeebecher in der Hand, und klickte sich durch die Galaxiekarte.
Sie hatte schon Systeme besucht, deren Namen wie Hautkrankheiten klangen, Frachtrouten geflogen, die nach altem Schweiß rochen, und jetzt wollte sie –
nichts Kompliziertes.
Einfach mal… die Erde sehen.

Nicht landen. Nicht landen dürfen.
Einfach nur sehen.
Die blaue Kugel, das uralte Zuhause, das so viele Leute romantisierten, als wär’s nie abgebrannt worden.

Sie klickte sich durch.

Ziel: Sol-System
Verbindung prüfen…

Nichts.

Die Karte zeigte keine Route.
Keine Verbindung. Keine Berechnung. Keine Fehlermeldung.
Einfach nur: Gar nichts.

Geraldine runzelte die Stirn.
Versuchte es nochmal.

Fehler: Zugriff verweigert – Zielsystem erfordert föderalen Zugang.

Sie starrte auf das Display.
Dann lachte sie leise.
Nicht vor Freude.

„Ich komm auf Planeten mit Ammoniakatmosphäre.
Aber auf diesen einen Ball nicht?“
Pause.
„Ich will doch nur gucken.“

Sie zoomte raus.
Und erst jetzt bemerkte sie: Es ging gar nicht nur um die Erde.
Das ganze System war gesperrt.
Sol – als wäre es ein Privatclub.

Ein weiteres Popup erschien:

Zugangsvoraussetzung: Föderaler Rang erforderlich
„Bitte wenden Sie sich an einen föderalen Kontaktpunkt, um Ihre Loyalität zu bekunden.“

Na klar. Ich bekunde gleich was.

Geraldine sank tiefer in den Sitz.
Der Kaffee war kalt. Der Antrieb surrte leise vor sich hin, als würde er sich schämen, Teil dieser Szene zu sein.

Ein System. Ein Heimatplanet. Und eine Mauer aus Bürokratie.

Willkommen bei der Föderation.

Loyalität kann man nicht tanken

Die ersten Missionen waren so spannend wie feuchter Pappkarton.

Liefer dies. Scanne das. Bring jenes zu Station X, aber bitte mit Höflichkeit und digitaler Signatur.
Geraldine hätte geschworen, dass ihr Schiff langsamer sprang, sobald das Missionsziel „Förderung föderaler Interessen“ hieß.

Aber sie tat es.
Weil sie’s wollte.
Oder weil sie sehen wollte, ob sie’s konnte.
Oder weil Sol ihr jetzt schon so auf die Nerven ging, dass sie es aus Prinzip knacken wollte.

Der erste Rang kam nach drei Einsätzen:

Föderationsstatus aktualisiert: Rekrut

Geraldine starrte auf den Text.
„Das klingt wie jemand, der fragt, ob ich Kaffee kochen kann.“

Sie tat, was sie immer tat: weiterfliegen.

Später – ein paar Lieferungen, zwei fast gescheiterte Eskortflüge und eine zerstörte Zielboje später – ploppte der nächste Rang auf:

Status: Kadett

„Oh. Ich darf jetzt bestimmt die Schuhe putzen vom Admiral“, murmelte sie.

Sie begann, die Aufträge zu sortieren.
Nicht mehr alles annehmen.
Nur das, was halbwegs Sinn machte.
Oder halbwegs gut bezahlte.
Oder wenigstens nicht zum hundertsten Mal Frachtkisten mit medizinischen Vorräten von A nach B.

In einem heruntergekommenen Briefingraum auf Hutner Hub traf sie einen älteren Offizier mit zu viel Rangabzeichen und zu wenig Geduld.

„Sie haben Potenzial, Callen“, sagte er, ohne aufzusehen.
„Fliegen Sie weiter. Loyalität wird belohnt.“

„Loyalität kann man nicht tanken“, sagte Geraldine trocken.
Der Offizier antwortete nicht.
Oder hatte es nicht gehört.
Oder war bereits auf dem Ohr für Zynismus taub.

Der dritte Rang ließ länger auf sich warten.
Aber irgendwann kam er:

Status: Fähnrich der Föderation

Geraldine war gerade im Landeanflug auf Mansfield Orbital, als der Bildschirm es meldete.
Sie lachte nicht.
Aber sie lächelte. Ganz kurz.

Weil es funktionierte.

Sie war immer noch sie – skeptisch, allein, mit einem Raumschiff, das beim Schließen der Klappen seufzte wie ein müder Hund.
Aber jetzt hatte sie Zugang zu Dingen, die vorher tabu waren.
Missionen mit Gewicht. Systeme mit Vertrauen.
Und vielleicht – irgendwann – die Erlaubnis, auf genau diesem blauen Ball zu landen, der ihr den Finger gezeigt hatte.

Aber bis dahin gab es noch viel zu fliegen.
Und noch mehr zu verdienen.

Ich wachse nicht. Ich flieg nur weiter.

Die Handelsrouten wurden länger.
Die Gewinne stabiler.
Die Kaffeepausen seltener.

Geraldine hatte sich mittlerweile ein System zurechtgelegt:
Lieferung → Station → neu laden → scannen, wenn’s passt → raus.
Kein Smalltalk. Kein Piloten-Getue im Barbereich. Nur Job.

Rang aktualisiert: Händler – Kaufmann

Ein kleiner Hinweis in der Navigationskonsole, direkt unter der Handelsstatistik.

Handelsrang, dachte Geraldine.
Also quasi: Ich bin offiziell kein Idiot mehr, wenn’s ums Verkaufen geht.
Zumindest laut Datenbank.

„Kaufmann“, murmelte sie. „Klingt wie jemand mit einem Stand auf einem Wochenmarkt.“

Trotzdem:
Sie verdiente jetzt ernsthaft.
Sie konnte sich Reparaturen leisten, ohne den Bordcomputer anzuflehen.
Und der T-6 hatte gelernt, nicht bei jedem Atmosphäreneintritt zu quietschen wie ein gestrandetes Musikinstrument.

Die Scans begannen beiläufig.
Anfangs nur, weil es sich anbot.
Dann, weil sie neugierig wurde.

Planeten mit Hochtemperatur-Zonen.
Seltsame Signaturen.
Einmal sogar ein Signal, das sich als abgestürzter Forschungssatellit entpuppte.
Sie meldete es.
Wurde nicht mal bedankt.

Aber das Spiel hatte sie gepackt.
Ein neues Ziel in der Leere?
Scan.
Datenpaket.
Abgabe.
Kohle.

Und irgendwann:

Rang aktualisiert: Entdecker – Ziellos

…Entdecker – Späher

…Entdecker – Kartograf

Geraldine sah sich selbst nicht als Entdeckerin.
Sie hatte nichts entdeckt.
Nur aufgezeichnet, was andere ignorierten.
Aber vielleicht war das dasselbe.

Später, nach einem langen Flug durch sieben Systeme, landete sie auf einem kleinen Außenposten ohne Dockautomatik.
Sie setzte von Hand.
Perfekt.

Niemand klatschte.
Aber sie grinste. Kurz.

Dann schloss sie die Augen, legte den Kopf gegen die kalte Verkleidung neben ihrem Sitz und dachte:

Ich wachse nicht. Ich flieg nur weiter.

Aber sie wusste, dass es nicht stimmte.

Einladung angenommen

Der Hangar war leer.
Kein Frachterlärm, keine Bewegung, nur das Summen der Dockfelder und das Klacken ihrer Schritte auf Metall.

Geraldine hatte gerade eine Ladung synthetischer Kühlmittel in einer Außenstation abgeworfen.
Die Credits waren okay. Nicht berauschend.
Aber das war eh nicht der Grund, warum sie diesen Flug gemacht hatte.

Sie war müde. Nicht körperlich.
Dieses andere Müde – wenn man so lange weitermacht, bis selbst der Autopilot innerlich gähnt.

Sie lehnte sich ans Terminal, ließ die Anzeige auf dem Borddisplay durchlaufen.
Aktuelle Aufträge, Statusdaten, ein paar Handelsinfos.

Und dann:
Ein kleines Fenster.
Unspektakulär. Ohne Ton. Einfach da.

Nachricht: Einladung erhalten

Absender: Felicity Farseer

„Commander Callen, wir haben von Ihrer Arbeit erfahren. Wenn Sie bereit sind, finden Sie mich in Deciat.“

Geraldine starrte auf den Text.
Einen langen Moment lang tat sie nichts.
Kein Fluch. Kein Grinsen. Kein Spruch.

Nur lesen.
Und begreifen.

Sie hatte es nicht erwartet. Nicht geplant.
Nicht mal erhofft.

Aber da war sie.
Die Tür, die sonst immer zu blieb.

Farseer.
Der Name, der immer wieder gefallen war.
In Gesprächen, in Foren, in diesen verdammten Missionslobbys.
Immer mit einem leichten Zucken in der Stimme – wie bei jemandem, der was gesehen hat, was andere nur glauben.

Sie öffnete die Galaxiekarte.
Deciat lag nicht weit entfernt – ein paar Sprünge, kein echtes Hindernis.

Sie klickte auf „Route berechnen“.
Wartete.

Dann erschien eine neue Anzeige.
Nicht nur das Ziel, sondern auch: Anforderungen.

Hinweis: Ingenieurzugang erfordert Materialien zur Modifikation
Vorschläge: FSD-Telemetriedaten, Erkundungsprotokolle, atypische Emissionen.

Geraldine runzelte die Stirn.

Natürlich. Keine Einladung ohne Eintrittskarte.

Sie öffnete ihre Materialliste.
Scrollte.

Und war überrascht.

Während der letzten Wochen hatte sich einiges angesammelt.
Unbewusst. Nebenbei.
Datenfragmente, Oberflächenscans, ein paar Rohstoffe, die sie aus Gewohnheit mitgenommen hatte.

Nicht viel.
Aber genug.

Genug für den nächsten Schritt.
Genug, um was zu ändern.
Genug, um das Schiff zu modifizieren.

Sie schloss das Menü wieder.
Starrte auf das Rumpfbild ihres T-6.

Ein Arbeitstier.
Ehrlich.
Raumklotz mit Herz.

Aber mit jedem Flug hatte sie gespürt:
Es ist nicht meins.

Farseer würde Modifikationen anbieten, klar.
Mehr Sprungreichweite. Weniger Gewicht.
Alles, was man brauchte, um richtig rauszufliegen.

Aber der T-6?
Der war für Frachten gemacht. Nicht für Fernweh.

Geraldine atmete langsam aus.

Der Gedanke war noch nicht fertig.
Aber er war da.

Und er würde bleiben, bis sie handelte.

Du warst gut. Aber ich geh jetzt.

Sie hatte nicht geschlafen.

Nicht wirklich.
Nur gelegen, in diesem viel zu großen Laderaum, zwischen verstauten Kisten, Werkzeugtaschen und einem Schott, das bei jedem Druckwechsel klackerte.

Der T-6 war funktional.
Geräumig.
Verlässlich.

Und genau das war das Problem.

Geraldine hatte sich die Einladung von Farseer nochmal angesehen.
Die Route geplant.
Die Materialien gecheckt.
Es hätte funktioniert.

Aber der Gedanke blieb:

Ich will raus. Nicht lagern.
Ich will weiter. Nicht breiter.

Der Verkaufsprozess war unspektakulär.
Ein Terminal, ein paar Klicks, eine kurze Bestätigung.

Schiff verkaufen: Typ-6 Transporter – Seriennummer AXS-2176-M

Sind Sie sicher?

Sie sah den T-6 ein letztes Mal an.
Die Lackkratzer. Die leicht schief montierte Scannerhalterung. Die kleine Notiz am Cockpit, die sie einmal selbst angebracht hatte: „Kein Zuhause. Nur Durchgang.“

Aber jetzt, wo sie gehen wollte –
fühlte es sich nicht wie ein Durchgang an.
Es fühlte sich an wie… Abschied.
Nicht von einem Schiff.
Sondern von einer Phase, die härter war, als sie zugeben wollte.
Und genau deshalb wichtig.

Ihr Bauch sagte:
Bleib noch einen Moment.
Ihr Kopf sagte:
Du hast einen Plan.

Und Geraldine war niemand, der Pläne ignorierte – auch wenn sie nie zugegeben hätte, dass sie einen hat.

Sie tippte:

Ja. Ich bin sicher.

Ein leises Summen.
Datenübertragung.
Verkaufsbestätigung.
Fertig.

Sie trat vom Terminal zurück.
Der Hangar wirkte plötzlich zu groß.

Aber es war kein Verlust.
Nur ein Wechsel.
Eine Entscheidung.

Sie atmete ruhig aus.
Und sagte leise, fast ohne Ton:

„Du warst gut. Aber ich geh jetzt.“

Dann ging sie.
Ohne sich umzudrehen.

Kapitel 4