
Der nächste Impuls
Die Citadel Geraldine arbeitete sich durch den Hyperraum wie ein träger Riese, Sprung für Sprung, die Projektionen der Route fest auf der Brücke verankert. Geraldine stand vor der Sternkarte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, während die Koordinaten des Zielsystems immer näher rückten.
Nicht Shinrarta Dezhra selbst – das war ausgeschlossen. Kein Carrier durfte ins Herz der Elite. Aber das Nebensystem, nur einen Sprung entfernt, war nah genug. Von dort konnte sie weiter.
„Letzter Sprung vorbereiten,“ sagte sie ruhig.
Die Offiziere bestätigten, Zahlen liefen über die Holoanzeigen, der vertraute Sog des Frameshift riss sie in den Strudel aus Licht und Bewegung. Sekunden dehnten sich, bis der Carrier schwer aus dem Hyperraum fiel.
Vor ihnen lag ein unscheinbares System, ein blasser Stern mit ein paar Planeten, kaum mehr als ein Punkt auf der Karte. Aber für Geraldine war es der Platz, an dem die Citadel bleiben würde.
„Orbit um den äußeren Gasriesen,“ befahl sie. „Stabile Bahn, volle Tarnung nach außen.“
Triebwerke zündeten, der Carrier drehte sich langsam, setzte seinen Kurs. Von der Brücke aus konnte Geraldine das helle Glimmen von Shinrarta am Rand des Sichtfelds erkennen. Nur ein Sprung entfernt, und doch unerreichbar für ihr Schiff.
Sie atmete tief durch, legte die Hand auf das kühle Geländer vor den Panoramascheiben. Der Carrier war am Ziel. Alles Weitere lag bei ihr.
Das Summen der Brücke verklang hinter ihr, als Geraldine in ihre Kabine trat. Kaum hatte sie sich gesetzt, flackerte das Com auf. Amandas Gesicht erschien, vom Cockpitlicht ihrer Fer-de-Lance scharf gezeichnet.
„Also stimmt es,“ begann Amanda ohne Einleitung. „Du willst nach Jameson Memorial.“
„Ja,“ erwiderte Geraldine knapp. „Die Python Mk II. Ich will sie mit eigenen Augen sehen. Der Carrier bleibt draußen, aber ich fliege rüber.“
Amanda zog eine Augenbraue hoch, das vertraute halbe Lächeln auf den Lippen. „Und du glaubst, du machst das allein?“
„Das war der Plan.“
„Vergiss es.“ Amanda lehnte sich in ihrem Sitz zurück, die Stimme fest. „Wir treffen uns auf deiner Citadel. Von dort fliegen wir zusammen in meiner FDL. Klein, schnell, unauffällig. Du nimmst dein Schiff in Empfang, und ich sehe zu, wie du dich damit anstellst.“
Geraldine konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. „Du klingst, als wäre es ein Gefecht.“
„Jedes neue Schiff ist ein Gefecht,“ konterte Amanda. „Du gegen deine Erwartungen.“
Einen Moment lang hielten sie den Blick, auch wenn nur ein Holo zwischen ihnen lag. Dann nickte Geraldine. „Gut. Triff mich auf der Citadel. Wir fliegen zusammen.“
„So gefällt mir das,“ sagte Amanda. „Bis gleich.“
Das Com erlosch. Geraldine blieb kurz sitzen, die Hände auf den Oberschenkeln. Ein Schiff zu kaufen war Routine. Aber mit Amanda an ihrer Seite bekam es ein Gewicht, das weit über Routine hinausging.
Das Com erlosch, und kaum eine Stunde später vibrierte der Hangar der Citadel Geraldine vom Dröhnen fremder Triebwerke. Amandas Fer-de-Lance schob sich durch die Tore, die schlanke Silhouette schimmerte im Licht der Positionsstrahler. Sie setzte präzise auf, kein Zentimeter zu viel, kein unnötiger Schub.
Geraldine wartete am unteren Ende der Rampe. Amanda kam ihr entgegen, Helm unter dem Arm, der graue Pilotenanzug noch vom Flug gespannt.
„Na, bereit?“ fragte sie, kaum dass sie den Boden berührt hatte.
„So weit man bereit sein kann,“ antwortete Geraldine trocken.
„Gut.“ Amanda nickte nur, das provokante Lächeln kurz wie ein Blitz. „Dann fliegen wir los, bevor du’s dir anders überlegst.“
Wenig später saßen sie nebeneinander im Cockpit der Fer-de-Lance. Amanda führte die Maschine mit routinierter Eleganz aus dem Hangar, Triebwerke flammten auf, und der Carrier schrumpfte hinter ihnen zu einem Schatten im All.
„Sieht man nicht alle Tage,“ murmelte Amanda, als die Citadel hinter ihnen zurückblieb. „Ein Träger, der brav draußen wartet.“
„Regeln sind Regeln,“ entgegnete Geraldine. „Shinrarta ist kein Platz für Kolosse.“
„Umso besser,“ meinte Amanda. „Wir gehen inkognito.“
Der Frameshift spannte sich, Sterne zogen zu Fäden, und Sekunden später öffnete sich der Raum. Vor ihnen drehte sich Jameson Memorial im Licht seines Sterns, gewaltig, majestätisch, das Herz der Elite.
Die Dockfreigabe kam prompt, als hätten sie nur auf sie gewartet. Amanda steuerte die FDL durch die Tore, der riesige Zylinder der Station umgab sie mit tausend Lichtern und Bewegungen. Die Plattform senkte sich, die Fer-de-Lance kam sauber zum Stehen.
„Da wären wir,“ sagte Amanda, löste die Gurte und stand auf. „Lass uns deine neue Liebe begrüßen.“
Geraldine meldete sich am Terminal, ihr Name bestätigte den Zugriff – und dann öffnete sich das hintere Dock.
Langsam rollte die Python Mk II hervor. Schlanker als das alte Modell, aber kraftvoll, fast wie ein Raubtier, das gerade aus dem Käfig kam. Die Hülle glänzte im Licht, frisch, unberührt, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet.
Amanda verschränkte die Arme, ihre Augen blitzten. „Verdammt, sieht besser aus, als ich gedacht hätte.“
Geraldine trat näher, legte die Hand auf den Rumpf. Das Metall war kühl, fast still – und doch spürte sie etwas darunter, als würde das Schiff leise atmen.
„Na los,“ drängte Amanda. „Bevor du hier Wurzeln schlägst. Zeig mir, ob sie wirklich fliegen kann.“
Geraldine und Amanda stiegen die Rampe hinauf, das Cockpit der Python wirkte noch nach frischem Kunststoff und unbenutzten Displays. Alles glomm in makellosem Licht, kein Kratzer, kein Staub. Geraldine ließ sich in den Pilotensitz sinken, spürte, wie die Steuerung sich wie von selbst unter ihre Hände legte.
„Also?“ Amanda hockte sich auf den Copilotenplatz, verschränkte die Arme. „Fühlt sich das nach dir an?“
„Noch nicht,“ erwiderte Geraldine. „Aber es wird.“
Die Systeme booteten hoch, Anzeigen sprangen ins Leben, das Summen des Reaktors füllte das Cockpit. Mit einem kurzen Druck löste Geraldine die Magnetklammern, und die Python hob ab. Schwer, aber nicht träge – ein Körper, der wusste, wie er sich bewegen wollte.
„Schöner Ton,“ murmelte Amanda.
„Nicht nur Ton.“ Geraldine gab Schub. Das Schiff reagierte direkt, rollte sauber, stieg mit Leichtigkeit aus dem Dock hinaus. Draußen breitete sich das Schwarz des Alls, und die Python streckte sich wie ein Muskel, der endlich benutzt wurde.
„Nicht schlecht,“ kommentierte Amanda, die jede Bewegung aufmerksam verfolgte.
„Warte,“ sagte Geraldine knapp. Sie drückte den Regler für den neuen SCÜ.
Ein kurzer Impuls – und die Python katapultierte sich nach vorn. Sterne verzogen sich, das Schiff sprang quer durchs System, als hätte es die Regeln des Supercruise neu geschrieben. Doch kaum fielen sie zurück in den Normalraum, ruckte der Rumpf spürbar, Anzeigen flackerten einen Atemzug zu lang.
„Roh,“ stellte Amanda fest. „Aber verdammt schnell.“
„Noch nicht ausgereift,“ gab Geraldine zurück, die Augen auf die Anzeigen geheftet. „Aber das Potential ist da.“
Sie testete Rollen, Schubwechsel, ein paar kurze Feuerstöße der Waffen. Alles reagierte sauber, direkter als bei der alten Python, und doch spürte sie in jeder Bewegung, dass das Schiff noch keine Geschichte hatte – als würde es darauf warten, erst geformt zu werden.
„Also?“ Amanda lehnte sich zurück, die Stimme halb neugierig, halb spöttisch. „Wird sie Teil deiner Sammlung?“
Geraldine ließ die Python in einer weiten Kurve gleiten. „Ich weiß es nicht. Noch nicht. Aber sie fühlt sich… richtig an. Und das reicht fürs Erste.“
Amanda grinste. „Du bist hoffnungslos. Aber immerhin spannend.“
Geraldine drosselte den Schub, drehte den Bug zurück Richtung Jameson Memorial. „Lass uns landen. Deine FDL muss ja auch noch ein paar Schrauben nachgezogen bekommen.“
„Und du bringst deine Neue sicher nach Hause,“ meinte Amanda.
Die Python glitt zurück zur Station, die Tore öffneten sich, das Dock nahm sie auf. Schwerelosigkeit wich Magnetklammern, und als das Schiff fest in der Werft lag, atmete Geraldine tief aus.
Sie wusste: noch hatte sie nicht entschieden, wofür sie diese Python brauchen würde. Aber der Anfang war gemacht.
Die Citadel Geraldine nahm die Python im Hangar auf, als wäre sie schon immer Teil der Flotte gewesen. Der Rumpf glitzerte noch wie frisch gegossen, während die Techniker routiniert Kontrollscans durchführten. Geraldine blieb einen Moment stehen, sah ihr neues Schiff zwischen Philippa und Ashley eingerahmt, und spürte doch, wie der Zweifel an ihr nagte. Der SCÜ war roh, unberechenbar – und ohne klare Aufgabe blieb die Python ein schönes, aber noch zielloses Werkzeug.
Sie ging in die Lounge, zog sich ein Glas Wasser und ließ sich in den Sessel sinken. Das Holo an der Wand lief nebenbei, eine Nachrichtenrotation aus Galnet, die sie eigentlich kaum beachtete.
Bis ein Schlagwort sie innehalten ließ.
„…und in den Werften der Core Dynamics läuft die Vorproduktion des Transporter-8 an. Offiziell vorgestellt wurde das Schiff heute Morgen. Branchenexperten sprechen bereits von einer Revolution im Bereich Mining-Logistik. Der T-8 ist nicht als Ersatz für den T-9 gedacht, sondern als Ergänzung – kleiner, flexibler, mit modularen Systemen, optimierten Frachträumen und neu entwickelten Förderanlagen.“
Geraldine richtete sich auf. Ihr Blick blieb am Holo hängen, während im Hintergrund schematische Bilder eines gedrungenen Frachters liefen, der mehr nach Werkzeug als nach Schiff aussah.
„T-8,“ murmelte sie leise.
Rosie trat just in diesem Moment herein, ein Datenpad unter dem Arm. „Hast du’s gehört? Könnte das neue Bergbau-Monster werden. Noch effizienter als der T-9, aber kleiner, flexibler.“
Geraldine schwieg, nahm einen Schluck und stellte das Glas ab. Schon wieder ein neues Schiff. Schon wieder ein Zug, an dem sie kaum vorbeikommen würde.
„Vielleicht ist das genau das, was fehlt,“ sagte sie schließlich. „Ein Schiff, das Arbeit nicht nur ermöglicht, sondern neu definiert.“
„Dann solltest du besser früh ein Auge drauf werfen,“ erwiderte Rosie knapp.
Geraldine nickte langsam. Der Gedanke an die Python verblasste für einen Moment. Der T-8 war noch nicht da – aber er war schon ein Versprechen. Und sie wusste, dass sie diesem Versprechen früher oder später folgen würde.
Der Bruch
Die Tage nach Shinrarta verliefen fast wie von selbst. Geraldine gewöhnte sich an die Python, doch die eigentliche Arbeit lief weiter: Handelsflüge, ein paar riskante Liefermissionen, zwischendurch Bergungsaufträge. Das Konto wuchs, die Crew hatte alle Hände voll zu tun, und die Citadel Geraldine vibrierte im gewohnten Rhythmus aus Landungen, Abflügen und Reparaturen.
Es war nicht glamourös, aber es war lukrativ. Und Geraldine mochte diese Phasen, in denen jeder Tag wie ein gut geöltes Getriebe ablief: Aufträge annehmen, Schiff beladen, Sprungkette setzen, Credits einsammeln. Kein Drama, keine Unsicherheiten – nur die kalte Verlässlichkeit von Routine.
Manchmal erwischte sie sich dabei, dass sie Amanda vermisste. Die Gespräche, das Scharfzüngige, das Lächeln, das immer wie ein Balanceakt zwischen Provokation und Wärme wirkte. Doch Amanda hatte ihre eigenen Wege, ihre eigenen Ziele. Also konzentrierte sich Geraldine auf ihre Aufgaben.
An einem dieser Abende saß sie in der Lounge. Ein Glas Wasser auf dem Tisch, die Füße ausgestreckt, die Displays im Hintergrund liefen mit Nachrichten und Systemmeldungen, die sie kaum beachtete. Der Tag war erfolgreich gewesen, die Bilanz stimmte, und zum ersten Mal seit Wochen ließ sie sich in die Polster fallen, ohne an den nächsten Auftrag zu denken.
Dann knackte das Com. Erst ein kurzes Rauschen, dann die Stimme von Rosie, ungewohnt ernst. „Commander… Sie sollten das sehen.“
Das Holo sprang auf. Ein offizieller Bericht, karg, sachlich, ohne jede Beschönigung. Ein Boden-Gefecht im HIP-System. Mehrere Verwundete, einige Tote. Und unter den Verwundeten: Amanda Lyvierre. Zustand: kritisch. Verlegt auf die Krankenstation von HIP 20850.
Geraldine blieb reglos sitzen, die Hände am Glas, das plötzlich zu schwer wirkte. Die Stimmen im Hintergrund verstummten, das Surren der Systeme rückte in den Vordergrund. Es war nur ein Satz, ein nüchterner Vermerk in einem Bericht – und doch zerschnitt er die Ruhe wie ein Messer.
Geraldine war kaum vom Sessel aufgestanden, da liefen die Startprozeduren der Anaconda schon im Hintergrund. Rosie hatte nicht gefragt, sie hatte gehandelt – genauso wie Holland, der den Kurs nach HIP setzte. Minuten später jagte Ashley in den Frameshift, die Sprungkette hart und unbarmherzig, als könnte Geschwindigkeit den Raum verkürzen.
Als sie Stunden später die Atmosphäre des Planeten durchstieß, drückte die Schwerkraft sie in den Sitz. Eine Welt, die fast nach Erde roch: dichte Wolken, weite Städte, Lichter wie pulsierende Adern unter der Nacht. Die Landekontrolle lotste sie direkt zum Hospital-Distrikt, eine gewaltige Anlage, deren Landeplattformen voller Shuttles waren.
Der Geruch schlug ihr schon beim Betreten entgegen: sterile Luft, die nach Desinfektion schmeckte, überlagert von Schweiß, Blut und Hektik. Stimmen hallten durch die Hallen, Tragen rollten über glänzende Böden, Ärzte in weißen Overalls eilten durch die Korridore.
Eine Schwester führte sie wortlos weiter, bis sie den Raum erreichten. Amanda lag auf einem Bett, Kabel liefen in ihren Körper, Monitore summten. Das blonde Haar klebte feucht an der Stirn, die Augenlider flatterten, als suchten sie Halt.
„Verdammt, Amanda…“ Geraldine setzte sich an die Bettkante, ihre Hände zögerten, bis sie eine der Amandas festhielten. Warm, aber schwach.
Die Lider hoben sich. Amanda blinzelte, ihr Blick unscharf, aber er fand sein Ziel. Ein schiefes Lächeln, kaum mehr als eine Bewegung. „Du hättest nicht kommen müssen.“
„Doch,“ erwiderte Geraldine sofort. „Weil du mich brauchst.“
Ein schwaches Schnauben, fast ein Lachen. „Ich… wollte nicht, dass du mich so siehst. Verdammt… unkontrolliert.“
„Du bist verletzt, nicht besiegt,“ sagte Geraldine leise, ihr Daumen strich über Amandas Handrücken. „Und ich bleibe, bis du hier wieder rausgehst.“
Amandas Blick wurde klarer, für einen Moment blitzte das alte Feuer darin. „Wenn du mir beim Aufstehen hilfst… dann lassen wir sie alle staunen.“
„Zuerst lässt du dich heilen,“ entgegnete Geraldine, die Stimme weich, aber unerschütterlich. „Danach kannst du wieder die Starke spielen.“
Amanda schloss kurz die Augen, ihre Lippen bewegten sich kaum hörbar. „Ich hasse es, schwach zu wirken.“
„Schwach ist, wenn man aufgibt,“ antwortete Geraldine sofort. „Und das tust du nicht.“
Für einen Atemzug herrschte Stille. Nur die Monitore pulsten, gleichmäßig, hartnäckig. Dann drückte Amanda schwach ihre Hand zurück. „Dann bleib… bis ich’s wieder kann.“
„So lange es dauert,“ versprach Geraldine.
Die Tage verloren ihre Kanten. Geraldine mietete sich ein schlichtes Apartment nahe dem Hospital-Distrikt – ein Raum mit Fensterfront, die auf den endlosen Verkehr der Stadt blickte. Sie schlief wenig, aß beiläufig, und jeden Morgen führte sie ihr erster Weg durch die weißen Gänge der Klinik.
Amanda lag die ersten Tage still, geschwächt, aber wach. Manchmal sprach sie nur wenig, manchmal zu viel, weil die Medikamente die Hemmungen lockerten. Geraldine hörte zu, saß oft einfach an ihrem Bett, hielt ihre Hand oder las die Berichte, die der Arzt ihr in sachlichem Ton erklärte.
„Die Verletzungen waren schwer,“ sagte er einmal, während Amanda schlief. „Aber wir konnten alles stabilisieren. Sie wird vollständig genesen. Es braucht nur Zeit.“
Geraldine nickte, das Gewicht in ihrer Brust löste sich kaum. „Vollständig?“
„Ja.“ Ein knappes, sicheres Nicken. „Die Prognosen sind eindeutig.“
Als Amanda am nächsten Tag die Augen öffnete, fand sie Geraldine neben sich, die Hände um einen Becher Kaffee gelegt. „Du hast mit ihm geredet, nicht wahr?“
„Natürlich.“
„Und?“
„Er sagt, du wirst wieder ganz.“
Amanda schnaubte, ein heiseres Lachen. „Sieh an. Du kriegst mal etwas, was du hören willst.“
In den Nächten sprach Amanda mehr. Erinnerungen schwappten hoch wie alte Wellen.
„Weißt du noch,“ murmelte sie eines Abends, „wie wir uns fast geprügelt hätten? In dieser Bar, mit Blick auf das Landedeck?“
Geraldine grinste schief. „Ja. Ich dachte, du würdest mir eine reinhauen.“
„Wollte ich auch,“ gab Amanda zu. „Aber dann hast du gelächelt. Und ich wusste nicht mehr, ob ich zuschlagen oder dich küssen will.“
Für einen Moment wurde es still. Amanda drehte den Kopf, ihre Augen glänzten, und plötzlich rollte eine Träne die Schläfe hinab. „Verdammt… ich hasse das.“
Geraldine griff nach ihrer Hand, hielt sie fest. „Manchmal muss es raus. Stärke ist nicht, immer hart zu bleiben.“
„Dann hast du mich jetzt schwach gesehen,“ flüsterte Amanda.
„Nein,“ erwiderte Geraldine. „Ich habe dich gesehen. Wirklich gesehen.“
Am siebten Tag stand Amanda auf eigenen Beinen. Noch wacklig, noch mit Bandagen, aber das alte Funkeln war zurück. Geraldine schulterte Amandas Tasche, und gemeinsam verließen sie das Hospital. Draußen wartete Ashley, die alte Anaconda, deren vertraute Silhouette im Landelicht glänzte. Geraldine half Amanda die Rampe hinauf, und kurz darauf hob das Schiff ab, trug sie sicher hinaus durch die Atmosphäre und zurück ins All.
Die Citadel Geraldine nahm sie auf wie ein atmendes Zuhause. Crewmitglieder begrüßten Amanda knapp, ohne Fragen, als hätten sie immer gewusst, dass sie zurückkehren würde.
„Und deine Fer-de-Lance?“ fragte Geraldine, als sie durch den Hangar gingen.
Amanda zuckte mit der Schulter. „Steht irgendwo im HIP-System, wo ich sie zurückgelassen habe.“
„Dann kümmern wir uns darum,“ entschied Geraldine. Noch am selben Abend gab sie den Transfer in Auftrag. Die Citadel Geraldine würde den Sprungpreis übernehmen – eine stille Geste, die Amanda nicht kommentierte, aber mit einem langen Blick quittierte.
Später, als sie nebeneinander in der Lounge saßen, sagte Amanda leise: „Ich hätte es allein nicht geschafft.“
Geraldine antwortete nicht sofort. Sie griff nur nach ihrem Glas, stieß leicht gegen Amandas. „Gut, dass du’s nicht musstest.“
Zwischen Vertrauen und Verwundbarkeit
Die Citadel Geraldine lag im Schatten eines stillen Systems. Keine Aufträge, kein Druck. Für Amanda war es die erste Woche an Bord seit der Klinik, und noch immer bewegte sie sich vorsichtig, die Schulter bandagiert, aber das Feuer in ihrem Blick war zurück.
Am Abend saßen sie beide in der Lounge. Das Licht war gedämpft, der Raum fast leer, nur das Summen der Systeme füllte die Stille. Amanda streckte die Beine aus, eine Tasse in der Hand, während Geraldine sich gegenüber zurücklehnte.
„Rosie hat mir erzählt, was du auf dich genommen hast, um Echo rauszuholen,“ begann Amanda irgendwann. Ihre Stimme war ruhig, aber ihr Blick bohrte sich fest. „Allein, ohne Rückhalt, nur du und Ashley.“
Geraldine sah sie lange an, ehe sie antwortete. „Sie hat mich gerufen. Das reicht.“
Amanda schnaubte leise. „Du redest, als wäre das selbstverständlich. Ist es aber nicht. Echo… sie hat dich nie gewollt. Nie zugelassen. Und trotzdem gehst du los, als wäre sie deine beste Freundin.“
„Es ging nicht darum, was sie will,“ erwiderte Geraldine. „Es ging darum, was sie braucht.“
Amanda schwieg einen Moment, ließ die Worte wirken. Dann stellte sie die Tasse ab, beugte sich leicht nach vorn. „Und? Hat sie dir wenigstens gedankt?“
Geraldine dachte an den Moment zurück – das gebrochene Lächeln, die fast widerwillige Anerkennung in Echos Blick. „Auf ihre Weise. Ja.“
„Auf ihre Weise,“ wiederholte Amanda langsam, fast spöttisch. „Das klingt, als hättest du viel reingesteckt und fast nichts zurückbekommen.“
„Vielleicht.“ Geraldine zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Aber Vertrauen baut man nicht, indem man aufrechnet.“
Amanda sah sie an, lange, ernst. Dann nickte sie knapp. „Ich wünschte, ich könnte so denken. Ich rechne immer auf. Wer mir den Rücken freihält, wer mich hängen lässt. Vielleicht… zu oft.“
„Du hast gelernt, niemandem zu vertrauen,“ sagte Geraldine leise. „Echo hat gelernt, niemanden zu brauchen. Am Ende seid ihr euch ähnlicher, als du denkst.“
Amanda lachte heiser, schüttelte den Kopf. „Wenn du das so sagst, klingt es wie ein Kompliment. Dabei wollte ich gerade Eifersucht spüren.“
„Eifersucht?“ Geraldine hob eine Braue.
„Weil du für sie so viel riskiert hast.“ Amanda hob die Hand, bevor Geraldine antworten konnte. „Schon gut. Ich weiß, warum. Ich hätte dasselbe getan, wenn du mich gerufen hättest.“
Ihre Augen trafen sich, und für einen Moment war alles still. Kein Summen, kein Atem, nur dieses Gewicht, das sich wie ein unsichtbares Seil zwischen ihnen spannte.
Amanda kippte den Rest ihrer Tasse und drehte das Gefäß langsam in den Händen. „Weißt du… seit du die Python Mk II geflogen bist, krieg ich sie nicht mehr aus dem Kopf.“
Geraldine hob die Augenbrauen. „Du? Auf einer Python? Ich dachte, alles, was nicht nach Klinge aussieht, ist dir zu schwerfällig.“
„Schwerfällig war die alte,“ konterte Amanda. „Aber die neue… die bewegt sich. Ich hab’s gesehen, wie sie auf dich reagiert hat. Das hat mir gefallen.“
Geraldine lehnte sich zurück, das Glas zwischen den Fingern. „Du willst deine Fer-de-Lance eintauschen?“
Amanda lachte kurz, ohne Freude. „Das wäre, als würde ich einen Teil von mir abgeben. Die FDL ist mein Spiegel, mein Werkzeug, mein Zuhause. Aber manchmal… frage ich mich, ob es reicht, immer nur das Schwert zu sein.“
„Also denkst du über eine zweite nach.“
„Vielleicht.“ Amanda ließ den Blick sinken, fast nachdenklich. „Eine Python für Flexibilität. Mehr Frachtraum, mehr Optionen. Und die FDL, wenn es brennt.“
„Dann stell sie bei mir auf den Carrier,“ sagte Geraldine ruhig. „Beide. Du kannst jederzeit wechseln.“
Amanda sah auf, ein Schimmer in den Augen. „Und wenn ich’s mir anders überlege?“
„Dann fliegst du wieder nur die FDL. Aber zumindest hast du eine Wahl.“
Sie schwieg, rieb mit dem Daumen über den Rand der Tasse. „Manchmal beneide ich dich. Deine Flotte, deine Möglichkeiten. Alles auf dem Carrier, bereit, wenn du’s brauchst.“
„Es ist kein Luxus,“ erwiderte Geraldine. „Es ist ein Spiegel. Jedes Schiff steht für etwas, das ich lernen musste. Tiffany für Geduld. Ashley für Stärke. Elena für Verlust. Philippa für Mut. Und jetzt die Python – für…“ Sie stockte. „Noch weiß ich es nicht.“
Amanda musterte sie, lange. „Und was ist dann der T-8, von dem alle reden?“
„Vielleicht das nächste Kapitel,“ murmelte Geraldine. „Wenn er hält, was sie versprechen, wird er das Bergbau-Schiff schlechthin. Effizienter, modularer. Tiffany könnte Konkurrenz bekommen.“
„Und du wirst ihn kaufen,“ sagte Amanda. Kein Fragezeichen, nur Feststellung.
Geraldine verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Natürlich.“
Amanda schüttelte den Kopf, doch in ihrem Blick lag Wärme. „Du und deine Schiffe. Für dich sind sie mehr als Metall. Sie sind… Geschichten.“
„Und du?“ fragte Geraldine. „Was ist die FDL für dich?“
Amanda zögerte, dann sprach sie leise: „Mein Schutzpanzer. Mein Beweis, dass ich überlebe, egal was kommt.“
„Dann lass sie bei mir,“ sagte Geraldine sanft. „Damit sie immer da ist, wenn du sie brauchst. Aber probier die Python. Vielleicht findest du darin etwas, das dir fehlt.“
Amanda schwieg, ihre Finger spielten mit dem Tassenrand. Schließlich sah sie Geraldine an, und ihr Lächeln war diesmal kein provokantes, sondern eines voller Nachdenklichkeit. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht brauch ich mehr als nur ein Schwert.“
Amanda nahm einen Schluck, lehnte sich zurück und grinste. „Weißt du, deine Flotte ist nicht nur groß. Sie ist… exzentrisch.“
„Exzentrisch?“ Geraldine zog die Brauen hoch. „Sie ist eine Sammlung von Charakteren. Jeder Name erzählt eine Geschichte.“
„Na dann,“ sagte Amanda und legte die Arme verschränkt. „Erleuchte mich. Fang an.“
Geraldine nickte ernst. „T9 – Tiffany.“
Amanda lachte sofort. „Tiffany? Das klingt wie eine Kellnerin, die dir den dritten Cocktail bringt, während du schon unter’m Tisch liegst.“
„Sie hat mich reich gemacht,“ entgegnete Geraldine trocken. „Ohne Tiffany gäbe es keinen Carrier.“
„Na schön, sie darf bleiben. Aber nur, wenn sie mir auch mal einen Drink serviert.“
Geraldine verdrehte die Augen, fuhr fort. „Beluga Liner – Brittany.“
Amanda starrte sie einen Moment an, dann lachte sie schallend. „Natürlich. Die Diva unter den Schiffen. Ich wette, sie weigert sich, bei schlechtem Wetter zu starten.“
„Sie ist groß, majestätisch, und jeder will sie einmal von innen sehen.“
„Klingt wirklich wie eine Brittany.“
Geraldine ließ sie auslachen und setzte nach. „Dolphin – Daphne.“
Amanda verzog das Gesicht, als müsse sie sich das vorstellen. „Daphne? Klingt nach jemandem, die immer gute Ratschläge gibt, aber niemand hört zu. Passt also zur Dolphin.“
„Sie ist charmant,“ verteidigte Geraldine. „Und unterschätzt.“
„Genau wie alle Daphnes, die ich je getroffen habe,“ meinte Amanda, noch immer grinsend.
Geraldine schüttelte den Kopf, aber ihr Lächeln verriet sie. „Fer-de-Lance – Fabienne,“ sagte Geraldine mit einem kleinen Zögern.
Amanda zog die Brauen hoch. „Fabienne? Klingt wie eine Tänzerin, die dir mit einem einzigen Schritt das Genick bricht. Passt irgendwie.“
„Sie ist elegant und tödlich,“ meinte Geraldine. „Ich hab viel von ihr gelernt.“
Amanda grinste breit. „Klingt, als wärst du ein bisschen verliebt gewesen. Fabienne… die Ex, die man nie ganz vergisst.“
Geraldine schnaubte. „Eher eine Lektion als eine Ex.“
„Wie du meinst,“ sagte Amanda, aber ihr Blick blieb weich. „Jedenfalls passt der Name. Sie hat Stil – genau wie ihre Pilotin.“
Amanda entspannte sich, grinste dann wieder. „Gut. Weiter.“
„Imperiale Cutter – Cynthia.“
Amanda brach in ein kehliges Lachen aus. „Cynthia! Das ist die reiche Tante, die zu Familienfeiern immer zu spät kommt und trotzdem alle Geschenke mitbringt. Passt perfekt zur Cutter.“
Geraldine nickte langsam. „Arrogant, aber nützlich.“
„Genau,“ bestätigte Amanda. „Und du tust so, als würdest du sie nicht mögen, aber insgeheim freust du dich, wenn sie auftaucht.“
Geraldine seufzte gespielt. „Du machst dich über alles lustig.“
Amanda legte den Kopf schief, ein warmes Funkeln in den Augen. „Weil ich kann. Aber weißt du was? So verrückt es klingt – deine Schiffe haben tatsächlich Charakter. Vielleicht verliebst du dich nicht in Menschen, sondern in Metall.“
Geraldine erwiderte den Blick, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Metall enttäuscht einen nicht so leicht.“
Amanda schwieg einen Moment, sah sie ernst an – dann hob sie die Tasse und stieß gegen Geraldines Glas. „Dann trink auf Tiffany, Brittany, Daphne, Fabienne und Cynthia. Und auf die verrückte Frau, die ihnen allen Leben einhaucht.“
Amanda lehnte sich zurück, der vertraute Zug von Ironie in ihrem Blick. „Und was ist jetzt eigentlich mit deiner neuen Python? Sitzt die im Hangar und wartet, dass du dich entscheidest?“
Geraldine nickte knapp. „Genau das. Sie ist ein Werkzeug, das auf seinen Einsatz wartet. Wenn die Zeit kommt, weiß ich, was ich mit ihr mache. Bis dahin bleibt sie, wo sie ist.“
Amanda zog die Brauen hoch, das provokante Lächeln spielte auf ihren Lippen. „Du kaufst also ein Schiff, um es zu parken. Klingt nach einer soliden Investition.“
„Nicht jedes Kapitel beginnt sofort,“ entgegnete Geraldine. „Manche brauchen ihren Moment.“
Ein Schweigen entstand, nur das Summen der Systeme füllte die Lounge. Dann stellte Geraldine das Glas beiseite und sah Amanda direkt an. „Aber der T-8… der ist anders. Wenn der rauskommt, will ich ihn haben.“
„Der T-8.“ Amanda sprach den Namen, als koste sie ihn ab. „Noch ein Transporter. Noch ein Klotz aus Metall.“
„Nein,“ widersprach Geraldine. „Ein neues Mining-Schiff. Effizient, modular, gebaut für das, was ich brauche. Mit ihm kann ich richtig abbauen, schneller, besser als je zuvor.“
Amanda schnaubte leise. „Also noch mehr Stunden zwischen Felsbrocken und Staubwolken? Klingt verlockend.“
„Credits, Amanda,“ sagte Geraldine ruhig. „Und Kontrolle. Mit dem T-8 könnte ich die Citadel versorgen, ohne Abhängigkeiten. Kein Gefrickel mehr, keine Kompromisse. Pure Schlagkraft.“
Amanda musterte sie lange, ihre Augen funkelten spöttisch, aber nicht kalt. „Du und deine Schiffe. Wenn du so weitermachst, muss ich irgendwann Eintritt zahlen, nur um den Hangar zu betreten.“
Geraldine lächelte schwach. „Dann kauf dir die Python. Dann gehört ein Teil der Sammlung dir.“
Amanda lachte, das erste echte Lachen seit Tagen. „Vielleicht. Aber den T-8… den überlasse ich dir. Ich hab kein Talent für Gesteinsbrocken.“
„Dann schau mir zu, wie ich’s mache,“ erwiderte Geraldine. „Es wird sich lohnen.“
Verwundbar
Die Lounge lag still. Kein Nachrichtenstrom, keine Statusmeldungen. Nur das tiefe Summen des Carriers, gleichmäßig wie ein Herzschlag. Amanda saß leicht nach vorn gebeugt, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, der Blick nicht hart, sondern suchend.
„Weißt du, was mich in der Klinik am meisten fertig gemacht hat?“ Ihre Stimme war rau, doch klar. „Nicht der Schmerz. Nicht die Nähte. Es war der Moment, in dem ich gemerkt habe, dass ich zum ersten Mal seit Jahren nicht bestimmen kann, was als Nächstes passiert. Ich konnte nicht aufstehen, ich konnte nicht mal entscheiden, wer den Raum betritt. Jede Tür ging auf, ohne dass ich sie kontrolliert habe.“
Geraldine schwieg, ließ das sacken.
„Ich hab mein Leben lang Grenzen gebaut,“ fuhr Amanda fort. „Auf der Station, später in irgendwelchen Hinterzimmern, dann in Cockpits. Immer dieselbe Regel: Ich bestimme, wie nah jemand rankommt. Und in HIP lag ich da und hatte Fremde an mir dran, die Schläuche, Nadeln, Fragen. Das war… entwaffnend.“ Ein schiefes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich hasse dieses Wort. Entwaffnend.“
„Du warst nicht wehrlos,“ sagte Geraldine leise. „Du warst verletzt.“
„Ja. Und verletzt heißt in meinem Kopf: anfällig. Angriffsfläche.“ Amanda strich sich über die Bandage an der Schulter, als müsste sie verifizieren, dass sie real war. „Als du reingekommen bist, hab ich zuerst gedacht: Verschwind’ lieber. Sieh mich nicht so. Und dann… hab ich gemerkt, dass genau das der Punkt ist. Verwundbar sein heißt, jemanden bewusst nah genug ranzulassen, dass er dich treffen könnte – und zu hoffen, dass er es nicht tut.“
„Nicht hoffen,“ korrigierte Geraldine sanft. „Zutrauen.“
Amandas Blick hob sich. „Zutrauen,“ wiederholte sie, als koste sie das Wort. „Dann sag ich dir, wo meine Grenze ist. Ich brauche die Möglichkeit, Nein zu sagen. In Gefechten, in Gesprächen, in… allem. Wenn ich stoppe, stoppst du mit. Keine Fragen, erst mal. Ich hole dich dann nach. Sonst kippt das alte System in mir um.“
„Gilt,“ sagte Geraldine. „Und wenn du Hilfe brauchst, sagst du nicht tapfer, dass alles gut ist. Du sagst: Hilfe.“
„Ich hab’s in der Klinik nicht geschafft.“ Amanda atmete durch, schnaubte fast über sich selbst. „Die Nächte waren übel. Geräusche im Flur, Metall auf Rollen, Schritte, die zu schnell wurden. Ich hab mir eingeredet, dass ich damit klarkomme. Hab’s nicht gesagt. Und da war dieses Loch…“ Ihre Stimme brach kurz. Sie presste die Lippen zusammen, blinzelte. Eine Träne sammelte sich, hielt sich tapfer an der Lidkante und verlor dann den Halt. „Verdammt.“
Geraldine rückte nicht näher, drückte sich nicht auf. Sie ließ die Stille stehen, bis Amanda selbst die Hand ausstreckte. Dann legte sie ihre hinein.
„Als die Nachricht kam,“ sagte Geraldine ruhig, „wusste ich nicht, ob du überhaupt noch lebst. Und während ich zu dir geflogen bin, hab ich mir vorgestellt, wie es ist, in einen Raum zu treten, in dem du nicht mehr…“ Sie brach ab, holte neu Luft. „Ich hatte Angst, die echte. Nicht die, die man wegatmet. Die, die ganz tief sitzt.“
Amanda nickte kaum merklich. „Ich glaube, ich habe nie verstanden, wie sich das auf deiner Seite anfühlt. Ich bin immer die, die losfliegt und zurückkommt. Dass jemand wartet… das war für mich Theorie. Bis jetzt.“ Sie atmete länger aus. „Also gut: Wenn ich nachts kippe, wenn die Schritte auf dem Gang wieder zu laut werden, dann wecke ich dich. Und wenn ich Nein sage, akzeptierst du’s. Im Gegenzug verspreche ich, früher Ja zu sagen, wenn ich Hilfe brauche.“
„Abgemacht,“ sagte Geraldine.
„Noch etwas.“ Amanda suchte wieder den festen Ton, fand ihn – nur leiser. „Ich bin nicht unkaputtbar. Mein Körper hat Grenzen, mein Kopf auch. Ich fliege präzise, weil ich mir sonst selbst misstraue. Ich plane, weil Chaos mich triggert. Wenn du mich schieben willst, dann nur so, dass ich den Tritt spüre, aber nicht falle. Du kennst den Unterschied.“
„Ich kenne ihn,“ antwortete Geraldine. „Und wenn ich ihn mal verfehle, sagst du es. Sofort.“
Ein Hauch von Humor blitzte in Amandas Augen. „Ich sag’s dir wahrscheinlich, bevor du ihn verfehlst.“
„Guter Plan.“
Sie saßen so eine Weile, Hände ineinander, ohne das Bedürfnis, die Stille zu füllen.
„Ich lebe,“ sagte Amanda nach einer Zeit, als müsse sie den Satz testen. „Das klingt so banal. Aber ich hab’s gebraucht, es auszusprechen.“
„Ich weiß,“ sagte Geraldine. „Ich hab’s gebraucht, es zu hören.“
Amanda zog die Schultern gerade, das alte, kontrollierte Leuchten kehrte in den Blick zurück – nicht als Panzer, eher als Haltung. „Dann ist die neue Regel einfach: Ich bin stark. Und verletzlich. Beides. Wenn du mich so lesen kannst, kommen wir weit.“
„Ich habe dich gerade so gelesen,“ erwiderte Geraldine.
„Gut.“ Amanda ließ langsam ihre Hand los, nicht abrupt, sondern wie jemand, der weiß, dass er jederzeit wieder zugreifen darf. „Und wenn ich demnächst wieder in den Dreck springe, erinnere mich an heute.“
„Mach ich,“ sagte Geraldine. „Und ich bin da, bevor du aufkommst.“
Amandas Mundwinkel hoben sich, klein, echt. „Ich zähle darauf.“
Das Summen der Citadel blieb gleich, doch der Raum fühlte sich anders an: nicht größer, sondern tragender. Amanda hatte ihre Grenze nicht aufgegeben. Sie hatte sie gezeigt – und jemand hatte sie gesehen, ohne zurückzuweichen. Genau darin lag ihre neue Stärke.