Kapitel 25 – Ein Name im Staub

Begegnung auf der Rückreise

Auf dem Rückweg von den Guardian-Ruinen legte Geraldine einen Zwischenstopp an einer abgelegenen Station ein – nur ein kurzer Halt für Treibstoff und eine Pause, dachte sie. Doch manchmal entscheidet nicht der Kurs, sondern das, was einem dort begegnet.

Die Station hing wie eine rostige Klammer über dem Mond. Kaum Verkehr, ein träger Frachter am äußeren Ring, sonst nur das Summen der Lebenserhaltung und der Geruch von kaltem Metall in den Gängen. Geraldine hatte Elena für zwei Stunden festgemacht – Treibstoff, Filter, ein Kaffee, weiter.

In der kleinen Kantine saßen drei Leute: ein Mechaniker, der schlief, eine Händlerin, die Zahlen murmelte, und ein älterer Mann mit grauem Haar, der seinen Becher nicht trank. Er sah erst auf ihre Stiefel, dann auf die Hand an ihrem Gürtel, zuletzt in die Augen. Sein Blick blieb dort hängen.

„Entschuldigen Sie“, sagte er, ohne aufzustehen. „Sie erinnern mich an jemanden.“

Geraldine blieb einen Schritt zu weit weg stehen. „Passiert mir selten.“

„Mir auch.“ Ein fast unmerkliches Lächeln, das nicht bei den Augen ankam. „Die Art, wie Sie den Raum lesen, bevor Sie sich setzen. Und wie Sie beim Licht den Kopf minimal drehen. Manche lernen sich das ab. Manche nicht.“

Sie setzte sich nicht. „Kennen wir uns?“

Er schüttelte langsam den Kopf. „Nicht persönlich. Früher habe ich in einem Verbund gearbeitet. Kindereinheiten. Orbit-Programm.“ Er ließ das letzte Wort leise fallen, als wäre es spröde.

Der Mechaniker schnarchte kurz, die Händlerin blätterte weiter. Geraldine spürte, wie der Raum ein halbes Grad kälter wurde.

„Ich war Verwaltung, nicht Betreuung“, fuhr er fort. „Schichten, Laufzettel, Registerpflege. Wir haben Namen nicht gegeben. Wir haben sie… behandelt.“ Er tastete nach einem Wort, das nichts auslöste, und fand keins. „Es gab damals Richtlinien. Phonetiklisten. Die Funkprotokolle mochten keine Bindestriche, die Eingabemasken keine Doppelnamen. In den Nachtläufen wurden längere Bezeichnungen geglättet. Man nannte es ‚Harmonisierung‘.“

„Sie sprechen in Rätseln“, sagte Geraldine. Ihre Stimme war ruhig, aber der Becher in ihrer Hand blieb unangetastet.

„Das ist Absicht.“ Er sah kurz zur Tür, als prüfe er, ob sie noch offen war. „Ich war dabei, als eine Kleine in den Verbund kam. Rote Haare, zu viele Sommersprossen für das Licht dort oben. Still, aber nicht leer. Auf der Tafel stand ein Name, den die Liste später nicht mehr ausspuckte. Am nächsten Morgen hing an ihrer Koje ein anderer. Kürzer. Handlicher. Callen.“

Geraldine merkte, wie etwas in ihr gegen einen Widerstand stieß. „Sie meinen…“ Sie brach ab. Es klang zu plump, wenn sie es laut machte.

„Ich meine, dass es nicht immer die Menschen sind, die Dinge kleiner machen“, sagte er. „Manchmal tut es die Zeile im Formular.“

„Wie hieß sie vorher?“

Er hob die Hand, eine entschuldigende, offene Geste. „Das weiß ich nicht. Die Quellfelder waren hinterlegt, aber nicht freigegeben für uns. Wir sahen die Ausgabe, nicht den Ursprung. Ich habe mir damals eine Rüge geholt, weil ich einen doppelten Namen in ein Freitextfeld gerettet habe. Kurz darauf war ich versetzt. Später raus.“

„Warum sprechen Sie mich an?“

„Weil Sie so stehen wie sie stand, wenn es zu hell war.“ Er suchte kurz ihr Gesicht ab, als wolle er prüfen, ob er zu weit gegangen war. „Und weil ich mir seit Jahren wünsche, dass jemand fragt, ob es noch eine andere Version gibt als die, die die Drucker mögen.“

Geraldine fühlte, wie ihre Schulterblätter gegen die Jacke drückten. „Wenn ich frage, bringen Sie sich damit in Schwierigkeiten?“

„Ich bin alt genug, um mir Schwierigkeiten nur noch dosiert zu leisten.“ Ein dünnes Lächeln, diesmal mit einem Anflug Wärme. „Mehr als das, was ich gesagt habe, ist unklug. Und doch habe ich schon zu viel gesagt.“

„Warum?“ fragte sie leise.

„Weil sie… besonders war.“ Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Nicht laut. Aber anwesend. Manche Kinder lernen, die Luft nicht zu stören. Sie hat die Luft gezählt.“

Er stand auf, stellte den vollen Becher weg und sah sie noch einmal an. „Wenn Sie nachgehen wollen, suchen Sie nicht in den öffentlichen Registern. Suchen Sie in den Wartungsprotokollen. Manchmal vermerkt eine Tür mehr als ein Direktor.“

„Gibt es einen Namen? Eine Kennung?“

„Nur alte Gewohnheiten.“ Er deutete vage in die Richtung des Docks. „Der Verbund lief damals über eine Außenstelle am Rand. Planetar, nicht orbital. Mehr sage ich nicht.“

Er ging, bevor sie etwas erwidern konnte – nicht hastig, aber mit der Ruhe eines Mannes, der wusste, wann eine Tür zu bleiben musste. Der Mechaniker wachte auf, blinzelte, schlief wieder ein. Die Händlerin zählte weiter.

Geraldine blieb noch einen Augenblick stehen, den Becher in der Hand, der nicht wärmer wurde. Harmonisierung, dachte sie. Ein weiches Wort für einen harten Schnitt. Sie trank endlich, der Kaffee war bitter, als hätte er die ganze Zeit gewartet.

Auf dem Weg zurück durch den Korridor registrierte sie jede Beschriftung, jeden Namenszug an Türen, jeden Punkt, jede Lücke. Als sie die Kanzel erreichte, legte sie die Hand auf Elenas Konsole, als könnte der Rumpf eine Antwort geben. Nichts antwortete. Manchmal war das der ehrlichste Teil.

Gespräch mit Amanda

Der Carrier lag ruhig im Orbit, die gewaltigen Hangartore geschlossen wie die Lider eines schlafenden Tiers. Geraldine saß in der Lounge, die Hände um einen Becher gelegt, ohne zu trinken. Sie hatte Amanda nur eine kurze Nachricht geschickt – Wenn du in der Nähe bist, komm bitte. Keine Erklärung, kein Detail.

Es war keine Stunde vergangen, bis das Dock die Ankunft der Fer-de-Lance gemeldet hatte. Amanda war sofort gekommen. Sie wusste, dass Geraldine nie um Hilfe bat, wenn es nicht wichtig war.

Jetzt lehnte sie an der Kante des Tisches, die Arme locker verschränkt, und musterte Geraldine mit diesem kontrollierten Blick, der keinen Zweifel ließ. „Du siehst aus, als würdest du die Schwerkraft verlieren.“

Geraldine zwang sich, den Blick zu heben. „Vielleicht hab ich sie schon verloren.“

„Dann erzähl mir, was passiert ist.“

Also tat sie es. Erst stockend, dann flüssiger, als hätte sie die Worte zu lange zurückgehalten. Sie erzählte von Echo, der Fremden in den Ruinen – den misstrauischen Augen, der Härte und dem Wissen, das tiefer war als jede Datenbank. Wie sie dort gestanden hatten, im Staub, zwei Fremde, die einander nicht vertrauten und doch ein Stück Geschichte teilten.

Amanda hörte schweigend zu, nur ihr Kiefer arbeitete leicht. „Eine Frau, die allein in Ruinen überlebt … und du bist hingegangen.“

„Natürlich.“

„Natürlich.“ Amanda schnaubte leise, nicht vor Spott, sondern vor Wiedererkennen.

Geraldine holte Luft, als müsste sie über eine Schwelle treten. „Auf dem Rückweg hielt ich an einer abgelegenen Station. Ein älterer Mann hat mich angesprochen – nicht zufällig.“ Geraldine suchte Amandas Blick. „Er hat mich wiedererkannt. Nicht mein Gesicht, sagte er. Die Art, wie ich einen Raum lese. ‚So stand sie, wenn es zu hell war.‘ So hat er’s gesagt.“

Amandas Pupillen wurden schmaler. „Er kannte dich von früher.“

„Er meinte, er habe damals in der Verwaltung von Erziehungsstationen gearbeitet. Register, Namen, Laufzettel. Er hat das Wort Harmonisierung fallen lassen – längere Namen wurden gekürzt, geglättet, damit sie in ihre Systeme passen. Und dann hat er sich fast verschluckt, weil er zu viel gesagt hatte.“ Geraldine schüttelte den Kopf. „Er kennt meinen echten Namen nicht. Nur, dass Callen nicht der war, mit dem ich ankam.“

Eine lange Stille. Dann Amanda, leise: „Du glaubst ihm.“

„Ich weiß nicht. Aber irgendwas in mir … ja.“

Amanda nickte, langsam, mit diesem Blick, der nicht Mitleid war, sondern Präzision. „Echo im Staub. Ein alter Mann, der dir von deinem Namen erzählt. Beides in derselben Woche.“ Sie beugte sich leicht vor. „Das ist kein Zufall, Geraldine. Das ist das Universum, das dich schiebt.“

Geraldine lachte kurz, bitter. „Oder es ist einfach nur eine beschissene Reihe von Zufällen.“

„Vielleicht. Aber was, wenn nicht?“ Amanda richtete sich wieder auf. „Ich habe Kontakte. Leute, die Zugriff auf alte Register haben. Wartungslogs, Schichtpläne, Dinge, die eigentlich niemand mehr anschaut. Ich werde nachhaken.“

„Amanda …“

„Kein Aber. Ich mach das nicht für Akten. Ich mach das für dich.“

Geraldine atmete aus, als hätte sie etwas zu lange gehalten. „Und wenn da nichts mehr ist?“

„Dann finden wir Staubkörner. Manchmal reicht eins.“ Amanda griff nach dem Becher in Geraldines Händen, stellte ihn wortlos beiseite. „Aber eins sag ich dir: Wenn dein Name nicht Callen war, dann will ich wissen, wer du wirklich bist. Und du solltest es auch wollen.“

Später, im Hangar, suchte Geraldine nach Ablenkung. Guardian-Technologien wanderten in ihre Schiffe, Modul für Modul. Schweißnähte, Konsole, Testläufe. Ashley sprang zuerst, dann Elena. +10 Lichtjahre Reichweite. Der Horizont rückte weiter, als hätte jemand das Universum gedehnt.

Doch egal, wie weit sie sprang – wenn der Antrieb verstummte, kehrte die Stille zurück. Und mit ihr der Gedanke: Wenn ich nicht Callen bin – wer dann?

Wochen vergingen. Amanda war unterwegs auf Missionen, Geraldine flog ihre Routen. Aber der Zweifel nagte. Immer wieder griff sie zum Com, als müsste eine Nachricht auftauchen: Ich habe etwas gefunden.
Keine kam. Nur Routine, die sich wie Staub über alles legte.

Gespräch mit Kathleen

Das Holo summte leise, dann füllte Kathleens Gesicht den Raum. Ein Lächeln blitzte auf, doch es hielt nicht lange. „Du siehst aus, als würdest du seit Tagen gegen die Wände laufen. Was ist los?“

Geraldine atmete tief ein. „Es ist viel. Ich erzähle dir alles, aber du musst Geduld haben.“

Und sie erzählte. Von der Frau in den Ruinen, von den Augen, die misstrauisch und doch lebendig waren. Von der Stille zwischen den zerbrochenen Mauern, in der ein einziger Satz schwerer wog als jede Waffe. Von der Vorsicht, dem Respekt, der geblieben war. Von Echo. Und dann von der Station, dem alten Mann, seinem Blick, den Worten, die nicht hätten fallen dürfen. Vom Zweifel, der sich seitdem wie eine zweite Haut an sie gelegt hatte.

Kathleen hörte schweigend zu, nur ab und zu zog sie die Stirn in Falten. Erst als Geraldine verstummte, begann sie zu fragen.

„Diese Echo … wie hast du dich bei ihr gefühlt? Bedroht? Oder verbunden?“

„Beides. Es war, als hätten wir denselben Boden unter den Füßen – aber jeder hielt die Hand am Messer.“

„Und trotzdem hast du ihr vertraut, ein Stück?“

„Nicht vertraut. Aber ich habe gespürt, dass sie mir etwas zeigen wollte. Dass da mehr war, als sie gesagt hat.“

Kathleen nickte langsam. „Vielleicht wird sie noch wichtig. Vielleicht ist sie Spiegel oder Warnung. So jemand taucht nicht zufällig auf.“

Geraldine schwieg, und für einen Moment war nur das Summen der Verbindung zu hören.

Dann wechselte Kathleen das Thema, vorsichtig, aber bestimmt. „Und dieser Mann … du bist sicher, dass er dich erkannt hat?“

„Ja. Er hat mich nicht nach meinem Namen gefragt. Er hat mich beschrieben. Meine Art, mich zu bewegen, den Raum zu sehen. So, als hätte er mich vor Jahrzehnten gekannt.“

„Und er sagte, dein Name sei … verändert worden?“

Geraldine nickte, die Hände verkrampft. „Harmonisiert. Das Wort hat er benutzt. Gekürzt, damit es in ihre Systeme passt. Er weiß nicht, wie er vorher war. Aber er weiß, dass Callen nicht der echte ist.“

Kathleen sah sie ernst an. „Das muss ein Schock sein.“

„Es ist, als hätte jemand einen Riss in den Spiegel geschlagen. Ich sehe mich – und frage mich, ob das überhaupt ich bin.“

„Hör mir zu.“ Kathleens Stimme wurde fest. „Egal, welcher Name in irgendeiner Akte steht – du bist du. Die, die hier sitzt, die mit mir spricht, die alles überlebt hat, was andere zerbrochen hätte. Das ändert kein verdammter Stempel.“

Geraldines Kehle war trocken. „Ich will dir glauben. Aber es fühlt sich an, als hätte ich mich in jemand anderes gelebt.“

„Dann leih dir meinen Glauben“, erwiderte Kathleen, leiser. „Bis du deinen wiederfindest.“

Für einen Augenblick blieb Geraldine still, ließ die Worte sacken. Dann nickte sie langsam. „Danke. Wirklich.“

Kathleen hielt ihren Blick. „Ruf mich, wenn es schlimmer wird. Versprich es.“

„Ich verspreche es.“

Das Holo erlosch. Geraldine saß im Dunkel des Quartiers, und das Summen der Systeme war lauter als sonst. Doch Kathleens Worte hallten nach wie ein Licht, das nicht sofort erlischt.

Amanda bringt Ergebnisse

Der Carrier lag träge über einer hellen Gasriesenwolke, als die Ankunftsmeldung durch die Decks hallte. Geraldine wusste sofort, wessen Schiff das war. Die Fer-de-Lance hatte einen Klang, der selbst durch Stahl ging – ein kehliges Knurren, das im Hangar nachhallte.

Sie wartete nicht lange, bis Amanda die Gangway heraufkam. Staub an der Jacke, ein frisches Schrammen an der Schulter, das sie ignorierte, und dieses kontrollierte Lächeln, das nie verriet, ob sie erschöpft oder voller Energie war.

„Du wolltest Antworten“, sagte Amanda, kaum dass die Tür zum Briefingraum hinter ihr geschlossen war. Keine Begrüßung, keine Floskeln. Nur diese Stimme, fest und direkt.

Geraldine stand am Tisch, die Hände aufgestützt, als müsse sie Halt suchen. „Und?“

Amanda legte ein Datenmodul auf die Fläche, das sich sofort mit den Projektoren verband. „Ich habe gegraben. Mehr als gesund ist. Alte Wartungsprotokolle, verstaubte Register, Kontakte, die lieber nicht wissen wollen, dass ich sie habe.“

Ein Gitter aus Zahlen und Koordinaten erschien über dem Tisch. Amanda tippte eine Linie hervor, bis ein Name im Raum schwebte: Verbund-Station L-57, System Tevarin, planetar, Status: stillgelegt.

Als sie den Namen hörte, zuckte etwas in ihr – vage, brüchig, wie ein Schatten aus einer Erinnerung, die nie klar gewesen war.

„Da warst du“, sagte Amanda ruhig. „Dort hat man dich hingebracht. Es war eine der Stationen am Rand, abgeschottet, nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Dein Aktenpfad führt direkt dorthin.“

Geraldine spürte, wie sich die Luft in ihrer Lunge schwerer anfühlte. „Ich wusste nicht einmal, dass der Name existiert.“

„Das war Absicht.“ Amanda sah sie an, fest, aber nicht hart. „Man wollte nicht, dass du’s weißt. Und jetzt weißt du es.“

Geraldine starrte auf die Projektion. Eine Koordinate. Ein Punkt auf der Karte, nicht mehr. Und doch fühlte es sich an wie ein Gewicht, das plötzlich aus der Vergangenheit in ihre Hände fiel.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, mehr herauszufinden“, fuhr Amanda fort. „Wir müssen hin.“

„Dort ist nichts mehr“, murmelte Geraldine, mehr zu sich selbst.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“ Amanda schob das Modul beiseite. „Ich weiß nur eins: Antworten findest du nicht in den Archiven. Aber vielleicht zwischen verrosteten Türen.“

Geraldine sah sie an. „Du willst wirklich mit?“

„Natürlich.“ Amanda zuckte kaum mit der Schulter. „Allein wirst du dich selbst zerreißen. Zusammen finden wir vielleicht etwas, das mehr ist als ein Schatten.“

Eine lange Stille. Geraldine wollte widersprechen, wollte sagen, dass sie es allein schaffen musste – aber der Gedanke an die leeren Korridore, an das Schweigen alter Systeme, ließ sie den Mund wieder schließen.

„Dann nehmen wir die Anaconda“, sagte sie schließlich. „Sie hat die Reichweite, und… vielleicht brauche ich die Größe, um das auszuhalten.“

Amanda nickte, langsam, fast zufrieden. „Gut. Dann pack deine Geister ein, Geraldine. Wir fliegen ihnen entgegen.“

Geraldine lachte heiser, ohne Freude, aber auch ohne Verzweiflung. „Manchmal frage ich mich, warum du immer die richtigen Worte findest.“

„Weil du sie hören musst.“ Amanda trat einen Schritt näher, legte eine Hand an Geraldines Arm – fest, kurz, genug, dass es spürbar blieb. „Wir machen das. Zusammen.“

Geraldine nickte, und für einen Moment war es, als würde der Punkt auf der Karte heller leuchten. Nicht als Bedrohung, sondern als Richtung.

Die verlassene Station

Die Anaconda glitt lautlos aus dem Frameshift, die Sterne zuckten zurück in ihre Positionen. Vor ihnen spannte sich das System Tevarin auf: eine fahle Sonne, ausgewaschen wie altes Metall, Planeten, die kaum Farbe trugen. Geraldine hatte die Hände fest am Schubregler, auch wenn das Schiff längst im Autopilot hing. Amanda neben ihr, aufrecht im Sitz, die Augen wachsam.

„Da unten“, murmelte Amanda. Auf dem dritten Planeten blinkte eine Markierung auf, unscheinbar, fast verschluckt vom Grau des Terrains.
Verbund-Station L-57.

Als die Atmosphäre das Schiff packte, begann der Rumpf zu vibrieren. Geraldine spürte das Brummen im Brustkorb, stärker als sonst, als würde das Schiff mit ihr sprechen. Unter ihnen breitete sich eine Landschaft aus, kahl und leer, als hätte jemand die Farbe aus der Welt gespült.

Die Station lag wie ein Gerippe im Staub. Türme, halb eingestürzt. Dockkräne, die ins Nichts ragten. Stille, die nicht friedlich war, sondern wachsam.

„Sieht tot aus“, sagte Amanda.

„Tot ist manchmal gefährlicher als lebendig.“ Geraldine hielt den Atem an, als sie den Landevektor einstellte.

Kaum hatten die Stützen den Boden berührt, meldete das Radar Bewegung. Zwei Signale, dann drei, dann mehr. Amanda schnappte sich den Helm, das Visier noch oben. „Wir sind nicht die Einzigen hier.“

Geraldine sprang auf. „Plünderer.“

„Waren zu erwarten.“ Amanda griff nach ihrer Waffe, überprüfte die Ladung mit routiniertem Klick. „Aber das hier ist unser Ort. Wir lassen uns nicht vertreiben.“

Die äußere Schleuse öffnete sich mit einem gequälten Kreischen. Staub wehte herein, trocken und scharf. Kaum traten sie hinaus, lösten sich Gestalten aus den Ruinen: dunkle Silhouetten, Schrotflinten, billige Rüstungen.

„Na, was haben wir denn da?“ rief einer, die Stimme verzerrt durch den Helm. „Fette Beute im goldenen Schiff!“

Amanda trat einen Schritt vor Geraldine, die Waffe locker in der Hand, aber der Blick kalt wie Stahl. „Dreht euch um und verschwindet. Letzte Warnung.“

Gelächter. Einer hob seine Knarre, doch er kam nicht weit. Amandas Schuss war schneller, sauber, kontrolliert. Er brach zusammen, der Rest zog sich reflexartig zurück. Für Sekunden war nur das Rauschen des Staubs zu hören.

Dann stürmten sie. Vier Gestalten aus unterschiedlichen Richtungen. Geraldine riss ihre Pistole hoch, die Hände zitterten, aber sie zwang sich, den Blick zu halten. Zwei Schüsse verfehlten, der dritte traf eine Schulter. Der Gegner stolperte, fiel in den Staub.

Amanda bewegte sich wie ein Schatten: geduckt, präzise, tödlich. Jeder Schuss saß, jeder Schritt war kalkuliert. In weniger als einer Minute war die Gruppe am Boden – drei kampfunfähig, einer geflohen, stolpernd in die Dunkelheit.

Geraldine stand keuchend da, die Waffe noch erhoben. Ihre Finger waren klamm, Schweiß lief ihr den Nacken hinab. Amanda legte ihr kurz die Hand auf den Lauf und drückte ihn sanft nach unten. „Es ist vorbei.“

„Für sie“, murmelte Geraldine, den Blick auf die reglosen Körper gerichtet.

„Für uns fängt es erst an.“ Amanda wies mit einer Kopfbewegung auf die stillgelegten Gebäude. „Komm. Wir haben nicht wegen ihnen den Weg hierher gemacht.“

Sie durchquerten das Vorfeld der Station. Türen hingen schief in den Angeln, Kabel baumelten wie trockene Ranken von der Decke. In den Hallen lag der Staub wie ein Teppich, der jedes Geräusch verschluckte. Ihre Schritte hallten in der Leere, als würden sie etwas aufwecken, das längst vergessen sein wollte.

„Hier warst du also“, sagte Amanda leise.

Geraldine antwortete nicht. Ihre Augen wanderten über die Mauern, die Korridore, die rostigen Geländer. Es war, als würde ihr Körper eine Erinnerung haben, die ihr Kopf nicht greifen konnte. Ein Ziehen im Bauch, ein Schwindel im Nacken.

„Es fühlt sich an…“ Sie schluckte. „…als hätte ich hier schon mal geatmet.“

Amanda nickte, sagte nichts.

Vor ihnen lag die zentrale Halle, halb eingestürzt, mit Schutt und Metall übersät. Geraldine blieb stehen, atmete flach. „Wenn hier Antworten liegen, dann irgendwo da drin.“

Amanda trat neben sie, die Waffe noch locker in der Hand, die Stimme ruhig. „Dann holen wir sie uns.“

Der Fund

Die Anzüge meldeten atembare Atmosphäre – dünn, staubig, aber ohne Giftstoffe. Sie nahmen die Helme ab, und die Luft roch nach Rost und alter Asche.

Die Luft in der Station war abgestanden, trocken wie Papier. Jeder Atemzug schmeckte nach Staub und Metall. Geraldine ging langsam, als wolle sie den Geruch wirklich einatmen. Amanda blieb dicht neben ihr, die Waffe locker, aber bereit.

Die erste Halle war ein Speisesaal. Tische aus verkratztem Metall, Stühle, von denen nur noch die Hälfte stand. Auf einer Wand verblasste Linien, Reste alter Projektionen. Geraldine blieb abrupt stehen.

Kinderstimmen. Laut, aber nie fröhlich. Metalltabletts, die über Tische schrappten. Eine künstliche Stimme, die Essenszeiten aufsagte. Keine Gespräche, nur Löffel, die rhythmisch klirrten.

Sie fasste an die Lehne eines Stuhls, spürte den Rost unter den Fingern. „Hier… hier habe ich gesessen.“ Die Worte kamen von allein. „Immer am Rand. Nie in der Mitte.“

Amanda sah sie an, sagte nichts.

Sie gingen weiter durch die Korridore. Längs der Wände hingen alte Kabelstränge, gebrochen, wie Venen ohne Blut. Die Lampen waren blind, Staubschichten über den Gehäusen. Nur der Wind spielte durch die Ritzen, brachte alte Schilder zum Klappern, als wollten sie sich an ihre Pflicht erinnern.“

Endlose Reihen, Kinder in gleichen Uniformen. Schritte im Gleichklang. Türen, die sich automatisch öffneten und schlossen, ohne dass jemand sie berührte. Geraldine, kleiner, dünner, den Blick gesenkt, während eine künstliche Stimme Namen vorlas. Nicht ihren – nicht den echten. Nur das Wort „Callen“. Wieder und wieder.

Sie presste die Lippen zusammen, zwang sich weiterzugehen.

Ein Büro. Schreibtische, gestapelte Aktenhüllen, Terminals, die längst dunkel waren. An der Wand hing noch eine vergilbte Vorschriftentafel, halb abgerissen. Geraldine blieb stehen, die Finger über den Rahmen.

„Sie saßen hier“, murmelte sie. „Die, die entschieden haben. Es war nie jemand, den man sah. Nur Stimmen aus Räumen wie diesem.“

Amanda trat neben sie. „Und du hast sie trotzdem gespürt.“

„Jeden Tag.“

Dann der Korridor, der schmaler wurde, die Türen enger gesetzt. Geraldine ging langsamer, jeder Schritt schwerer. Vor einer Tür blieb sie stehen, die Hand auf der kalten Oberfläche. Die Nummer war kaum noch zu lesen.

Eine kleine Koje. Ein schmaler Schrank. Eine Lampe, die nie ganz dunkel wurde. Eine Decke, dünn, grau. Nächte, in denen sie wach lag, während andere Kinder schliefen, das Ohr an der Wand, um die Schritte im Flur zu zählen. Ein Name, der dort hing, nicht der ihre. Ein Name, der passte, weil er ihnen passte.

Geraldine schloss die Augen, ließ die Stirn gegen die Tür sinken. „Das war mein Zimmer.“

Amanda legte ihr eine Hand auf die Schulter, fest, ohne ein Wort.

Schließlich fanden sie den Kontrollraum. Alte Konsolen, Schränke mit Datenmodulen, manche verbrannt, andere unversehrt. Geraldine zog eine Schublade auf, Staub wirbelte auf. Darin ein einzelner Speicherblock, kantig, grau, mit der Kennung der Station.

Sie nahm ihn vorsichtig heraus, als könnte er zerbrechen. „Das ist es.“

Zurück auf der Anaconda saßen sie Stunden nebeneinander, den Speicher an das Terminal gekoppelt. Zeilen von Daten flimmerten vorüber: Dienstpläne, Wartungslogs, Ernährungsberichte.

Und dann ein Ordner, tief im System: Initialregistrierungen.

Geraldines Herz schlug so laut, dass sie ihr eigenes Atmen nicht hörte. Amanda öffnete die Datei.

Name: Geraldine Cailloux-Delaurent.
Geburtsdatum: 09.08.3286.
Status: Aufnahme in Erziehungsstation L-57.
Bemerkung: Name für administrative Nutzung gekürzt zu „Callen“.

Geraldine starrte auf die Worte, als hätte jemand die Zeit angehalten. Ihr Herz schlug hart gegen die Rippen, die Luft blieb ihr im Hals stecken.
„Das…“ Sie brachte den Satz kaum heraus. „…das war also immer da.“

Amanda schwieg, ließ die Hand auf ihrer liegen. Kein Kommentar, kein Trost – nur die Bestätigung in ihrer Präsenz.

„Geraldine Cailloux-Delaurent“, murmelte Geraldine, probierte den Klang wie etwas, das ihr fremd war und doch zu ihr gehörte. „So hat man mich genannt, bevor ich wusste, was ein Name ist.“

Amanda nickte langsam. „Und jetzt weißt du es wieder.“

Und während draußen die Sonne von Tevarin langsam hinter den Horizont sank, saßen sie in der Dunkelheit der Kanzel, allein mit den Daten – und mit einer Wahrheit, die Geraldine nie wieder verlieren konnte.

Kapitel 26