Kapitel 24 – Fremde im Staub

Waffen und Worte

Staub hing schwer in der Luft, wie ein Schleier, der jede Bewegung verzögerte. Geraldine stand reglos zwischen den zerbrochenen Pfeilern, den Atem flach, die Hand noch über dem Riemen ihrer Waffe – aber unbewegt.

Die Frau ihr gegenüber war kaum größer als sie, doch die Art, wie sie die Pistole hielt, ließ keinen Zweifel daran, wer hier die Situation beherrschte. Langes Haar fiel unordentlich über die rechte Seite, die linke Schläfe war kahl rasiert, der Kontrast machte ihr Gesicht noch härter. Die Kleidung war schlicht, abgetragen, voller Spuren von Staub und Verschleiß. Ihre Augen waren dunkel, ernst, und so wachsam, dass sie Geraldine bis auf die Knochen durchschnitten.

Keine von beiden sprach. Nur das tiefe Summen der alten Systeme vibrierte im Hintergrund, wie ein Herzschlag, der nicht zu einem von ihnen gehörte.

„Wer bist du?“ Die Stimme der Fremden war rau, ungeübt, als hätte sie seit Wochen kaum ein Wort gebraucht.

Geraldine schluckte trocken. „Nur eine Pilotin.“

Die Waffe bewegte sich keinen Millimeter.

„Warum hier?“

„Weil ich wissen will, was die Guardian hinterlassen haben.“ Geraldine sprach langsam, vorsichtig, als könne jedes Wort das Gleichgewicht kippen.

Ein kurzes Blinzeln, kaum mehr als ein Ruck der Lider. Mehr nicht.

Der Staub rieselte weiter von den Mauern, und für einen Augenblick war die Welt auf zwei Atemzüge reduziert – ihren und den der Frau mit der gezogenen Waffe.

Dann senkte sich der Lauf minimal, kaum zu sehen, eher zu erahnen.

Geraldine wagte keinen Schritt, aber sie spürte, dass es ein Signal war: kein Vertrauen, aber auch kein Schuss.

Sie ließ die freie Hand ein Stück weiter sinken, nicht als Geste der Schwäche, sondern um klarzumachen: sie war hier, um zu bleiben.

Die Fremde sah sie lange an, ihre Augen prüfend, unergründlich. Dann sprach sie noch einmal, so knapp, dass es fast ein Befehl war:

„Keine Dummheiten.“

Geraldine nickte kaum merklich.

Die Stille blieb, schwer wie Blei. Aber etwas hatte sich verändert. Es war nicht mehr die Stille vor einem Schuss – sondern die Stille, in der entschieden wurde, ob Worte möglich waren.

Echos Vergangenheit könnt ihr HIER lesen

Ein Name im Staub

Die Waffe war noch immer erhoben, wenn auch nicht mehr so starr wie zuvor. Geraldine bewegte sich keinen Millimeter, nur ihre Stimme durchbrach die Schwere.

„Ich bin Geraldine,“ sagte sie leise. „Commander. Aber hier drin nur… Geraldine.“

Ihre Worte hallten an den Mauern, klangen fast fehl am Platz in dieser uralten Halle.

Die Fremde antwortete nicht sofort. Ihr Blick ruhte auf Geraldine, kalt und prüfend, als wollte er jedes Detail abtasten. Sekunden dehnten sich, Staub rieselte von einer geborstenen Gravur.

Dann, knapp, als koste es sie Überwindung:
„Echo.“

Nicht mehr. Keine Erklärung, kein Zusatz.

Geraldine nickte, langsam, um die Stille nicht zu zerreißen. „Echo.“ Sie sprach den Namen vorsichtig nach, als müsse sie ihn zuerst selbst schmecken, bevor er bleiben durfte.

Ein Flackern huschte über das Gesicht der Frau – kaum sichtbar, vielleicht Ärger, vielleicht nur ein Reflex. Doch sie korrigierte ihren Stand nicht, die Waffe blieb griffbereit.

Zum ersten Mal standen sie einander nicht nur als Fremde gegenüber. Jetzt hatten sie ein Wort, das zwischen ihnen hing – dünn wie ein Faden, aber stark genug, um die Stille zu tragen.

Erste Fäden im Staub

Sie gingen nebeneinander durch einen Gang aus zerbrochenen Bögen. Staub knirschte unter den Stiefeln, Kristalle glommen matt in den Ritzen der Wände. Echo lief ein Stück voraus, die Pistole noch griffbereit, aber nicht mehr auf Geraldine gerichtet.

„Du kennst diesen Ort,“ sagte Geraldine schließlich.

„Ich kenne jede Ecke,“ erwiderte Echo knapp.

„Seit wann bist du hier?“

Echo blieb stehen, drehte sich halb um. Der Lichtkegel der Schulterlampe schnitt scharf über ihr Gesicht, über die langen Haare, die auf eine Seite fielen, und die kahlrasierte Schläfe. Die Augen waren dunkel, ernst, ohne jeden Glanz.

„Lange,“ sagte sie. „Länger, als gut ist.“

Geraldine ließ die Worte wirken. „Freiwillig?“

Ein kurzes, trockenes Lachen, ohne Freude. „Niemand kommt freiwillig hierher.“

„Dann wurdest du gezwungen?“

Echo schüttelte den Kopf, sah kurz auf den Boden, bevor sie wieder aufsah. „Ich musste verschwinden.“

Geraldine schwieg. Manchmal verrieten Pausen mehr als Antworten.

„Es gab jemanden,“ fuhr Echo leise fort. „Der verstanden hat, dass ich… nicht bleiben konnte. Dass sie mich sonst gefunden hätten.“

„Jemand, der dir geholfen hat.“

Ein Nicken, kaum merklich. „Serov.“

Der Name klang hart, wie ein Stein, der auf Metall fällt. Geraldine sah sie prüfend an.

„Wer ist er?“

„Der Einzige, der mir noch eine Tür offenließ.“ Echo wandte sich wieder ab, ging weiter zwischen den Pfeilern hindurch. „Mehr musst du nicht wissen.“

Sie schwiegen eine Weile. Geraldine hörte nur ihre Schritte, das leise Summen der alten Systeme, die diesen Ort mit Atem versorgten. Schließlich sagte sie: „Manchmal reicht es, wenn einer die Tür offenhält. Den Rest musst du selbst gehen.“

Echo drehte sich nicht um. Doch ihre Schultern sanken minimal, als hätte sie den Satz aufgenommen.

Es war nicht Vertrauen. Aber es war mehr als Misstrauen. Ein erster Faden, gespannt zwischen zwei Leben, die nicht zueinander gehörten – und doch für einen Moment im gleichen Staub standen.

Geheimnisse aus Stein

Der Gang öffnete sich zu einer Halle, die halb eingestürzt war. Zwischen den Trümmern hatte jemand Ordnung geschaffen: ein Stapel alter Kisten, ein improvisiertes Leuchtmodul, daneben Decken, eine schmale Bank aus Metallplatten. Geraldine blieb stehen. Das hier war kein Zufall, kein Zufluchtsort für eine Nacht.

„Du wohnst wirklich hier,“ murmelte sie.

Echo legte die Waffe auf die Kiste neben sich, griff zu einer Flasche, nahm einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ich habe gesagt, ich überlebe hier. Wohnen klingt nach etwas, das bleibt.“

Geraldine setzte sich langsam auf den Rand der Bank, das Gewehr seitlich abgelegt, die Finger locker. Die Luft war kühl, trocken, schmeckte nach Stein und Metall, aber sie war sauber. Sauberer als viele Stationen, die sie kannte.

„Wie geht das?“ fragte sie leise. „Hier draußen, auf einem Mond ohne Luft?“

Echo tippte gegen eine der Wände, wo feine Risse blau schimmerten. „Die Guardians haben Systeme gebaut, die länger laufen als alles, was wir je herstellen. Energie, Filter, Zirkulation. Frag mich nicht, wie. Aber solange sie summen, gibt es Atem.“

Geraldine nickte, sah sich um. „Ein Ort, der nicht leben sollte – und doch lebt.“

„So wie ich,“ entgegnete Echo trocken.

Ein Moment Stille. Geraldine spürte, wie die Worte in ihr nachhallten. Dann lachte sie leise, ohne Freude. „Dann sind wir wohl zwei von der Sorte.“

Echo sah sie an, prüfend. „Du redest, als wüsstest du, wie das ist.“

Geraldine lehnte sich zurück, starrte an die Decke, wo brüchige Pfeiler sich im Dunkel verloren. „Ich bin in einer staatlichen Erziehungsstation aufgewachsen. Keine Familie, keine Namen, nur Module und Regeln. Alles war funktional. Kein Ort, kein Zuhause. Du lernst, dich selbst zu tragen – oder du gehst unter.“

Echo schwieg. Doch ihre Augen hatten sich verändert. Weniger kalt, mehr… aufmerksam.

„Als ich alt genug war, habe ich einen Job in einer Werft bekommen. Hab Schiffe gesehen, gelernt, was sie können, ohne zu verstehen, warum. Ich habe gearbeitet, bis ich gehen konnte. Und dann war ich draußen. Allein, frei – und doch immer noch auf der Suche.“ Geraldine hielt inne, senkte den Blick. „Vielleicht suche ich noch immer.“

Ein Knistern aus der Wand begleitete ihre Worte, als ob die Ruine selbst lauschte.

Echo nahm die Flasche, trank, stellte sie zurück. „Du hast wenigstens eine Wahl gehabt.“

„Und du nicht?“

Ein kurzes Zucken um Echos Mundwinkel, kein Lächeln, mehr ein Schmerz, der zu schnell zurückgedrängt wurde. „Meine Wahl war Serov. Und die Tür, die er offenließ. Danach gab es keine Wege mehr. Nur Staub.“

Geraldine antwortete nicht sofort. Sie wusste, dass zu viel Fragen den Faden zerreißen konnte. Stattdessen griff sie nach der Flasche, nahm einen Schluck, reichte sie zurück. „Dann trinken wir auf die Türen, die uns übrig bleiben.“

Zum ersten Mal huschte etwas über Echos Gesicht – kein Lächeln, aber auch keine Maske mehr. Ein Hauch von Zustimmung.

Sie saßen eine Weile in der Halle, sprachen wenig. Echo zeigte Geraldine ein Terminal in der Wand, das noch schwach leuchtete, Glyphen, die sich wie flüssiges Metall bewegten. „Die Guardian haben Dinge gebaut, die nicht für uns gedacht sind,“ sagte sie. „Manchmal geben sie dir ein Stück. Manchmal nehmen sie alles. Das ist ihr Spiel.“

Geraldine sah die Symbole, verstand sie nicht, aber sie spürte das Gewicht. „Und du bewachst das hier.“

„Ich halte es am Leben,“ antwortete Echo knapp.

Die Stille zwischen ihnen war nicht mehr scharf, sondern schwer. Zwei Leben, die sich zufällig gekreuzt hatten – oder vielleicht auch nicht.

Geraldine wusste, dass sie noch nicht alles verstand. Aber sie wusste auch: Das Eis war dünner geworden. Und manchmal reichte schon ein Riss, damit Licht hindurchfiel.

Abschied im Staub

Die Stille hing schwer zwischen den Säulen. Geraldine hatte gesagt, dass sie aufbrechen müsse – doch Echo hatte nicht geantwortet. Sie stand noch immer dort, unbeweglich, die Augen dunkel und hart.

„Du lässt mich also nicht gehen?“ fragte Geraldine leise.

Echo schwieg, und der Staub rieselte zwischen ihnen wie eine Uhr, die langsam ablief. Schließlich hob Echo den Kopf, musterte sie lange. „Wenn du gehst, bleibt die Gefahr, dass du redest.“

„Ich habe dir gesagt, dass niemand davon erfährt,“ erwiderte Geraldine ruhig, aber ihre Stimme war fester als zuvor. „Wenn ich dich täuschen wollte, wärst du längst tot. Das weißt du.“

Ein Atemzug, ein Prüfender Blick. „Zeig es mir.“

Geraldine ging langsam voran, spürte Echos Schritte dicht hinter sich. Elena wartete in der Senke, der Rumpf grau vom Staub, der über ihr niedergesunken war. Die Rampe öffnete sich zischend, das Innere lag im Halbdunkel.

Echo blieb am Rand stehen, die Waffe locker, aber immer griffbereit. Geraldine setzte sich ins Cockpit, zog das Pad heraus, aktivierte das Logbuch. Die Koordinaten blinkten auf – ein klarer Eintrag, ein Geheimnis, das an jeden Datendienst übertragbar gewesen wäre.

Sie drehte den Bildschirm so, dass Echo es sehen konnte. Dann markierte sie die Daten – und löschte sie. Ein kurzes Aufblinken, die Anzeige sprang auf Null.

„Weg,“ sagte sie. „Nichts bleibt.“

Echo schwieg, doch ihre Finger spannten sich fester um den Waffengriff, als müsse sie den Impuls niederhalten, weiter zu prüfen.

„Reicht dir das?“ fragte Geraldine.

Ein langer Moment. Dann nickte Echo kaum merklich. „Für jetzt.“

Geraldine atmete durch, stand auf, ging zum Laderaum. „Dann sieh dir das an.“

Die Luken öffneten sich, Container rutschten heraus, klirrten dumpf auf den Boden: Wasser, Rationen, Ersatzteile, Energiezellen. Geraldine griff die erste Kiste, stellte sie direkt vor Echo ab.

„Vorräte,“ sagte sie knapp. „Nimm sie.“

Echo blinzelte, überrascht. „Warum?“

„Weil du sie brauchst.“ Geraldine sah sie fest an. „Und weil ich will, dass du weißt, dass ich Wort halte.“

Eine Sekunde zu lang verharrte Echo, bevor sie nach der Kiste griff. Ihre Hände legten sich fest um das Metall, als müsse sie die Geste prüfen, bevor sie sie annehmen konnte.

„Wo ist dein Schiff?“ fragte Geraldine, während sie die nächste Kiste herauszog.

Echo zögerte, dann deutete sie in Richtung der Felswand. „Hinter der Schlucht. Vergraben im Schatten. Keine Signatur. Serov hat es so eingerichtet, dass niemand es sieht.“

Geraldine nickte. „Dann bringen wir das rüber.“

Sie trugen gemeinsam, schweigend, die Vorräte durch den Staub. Die Felswand öffnete sich in einen schmalen Einschnitt, kaum sichtbar aus der Luft. Dahinter stand ein Schiff, halb unter Tarnplanen verborgen, gezeichnet von Zeit und Improvisation. Kein Stolz, kein Glanz – nur Überleben.

Am Ende, zurück bei Elena, hielt Geraldine Echo den kleinen Transponder hin. „Das ist mein Kanal. Direkt. Keine Umwege. Wenn du etwas brauchst, meld dich.“

Echo starrte das Gerät lange an, als wäre es gefährlicher als jede Waffe. Schließlich nahm sie es, schloss die Finger darum, und sah Geraldine wieder an.

„Wenn du dein Wort brichst…“

„Werde ich nicht,“ unterbrach Geraldine ernst. Ihre Stimme war fest, beinahe schneidend. „Dieser Ort bleibt geheim. Das schwöre ich dir.“

Ein letzter Blick. Dann schloss sich die Rampe, und Elena hob ab.

Geraldine sah die Ruine unter sich kleiner werden, das Tal, die Schatten. Und die Gestalt, die reglos zwischen Staub und uralten Steinen zurückblieb – allein, aber nicht mehr namenlos.

Elena hob sauber vom Boden ab, ließ die Staubfahne hinter sich und stieg in den grauen Himmel. Geraldine hielt den Kurs nicht sofort Richtung Bubble. Stattdessen schob sie neue Koordinaten ins Pad – eine alte, verzeichnete Stätte, nicht weit entfernt.

Echo hatte ihr im Gespräch mehr gezeigt, als sie erwartet hatte: ein paar Handbewegungen, Symbole, die wie Schlüssel wirkten. „Manche Türen öffnen sich nur, wenn du sie richtig ansiehst,“ hatte sie gesagt. Geraldine hatte nicht verstanden, aber sie hatte es sich gemerkt.

Jetzt wollte sie es versuchen.

Die Ruine lag offen da, gebrochen und vom Wind gezeichnet. Geraldine setzte Elena auf einer Kante ab, zog den Helm über und stieg aus. Der Boden knirschte, die Wände ragten wie alte Knochen aus dem Staub.

Mit einem Scanner in der Hand ging sie auf die Strukturen zu. Sie erinnerte sich an Echos knappe Worte, folgte den Mustern – und tatsächlich, eine der Platten löste sich mit einem Zischen. Dahinter glimmten kristallene Fragmente, Rohstoffe, die sie für die Module brauchte.

Sie sammelte schweigend, Stück für Stück, während über ihr der Himmel schwarz blieb. Keine Stimmen, keine Schritte, nur ihr Atem im Helm.

Als sie zurück zu Elena ging, legte sie die Hand an den Rumpf. „Geheim bleibt es,“ murmelte sie. „Das schwöre ich.“

Die Systeme summten hoch, das Schiff hob ab. Hinter ihr versanken die alten Steine wieder im Staub, als wäre sie nie dort gewesen. Doch das Gefühl, dass jemand über sie wachte – das blieb.

Kapitel 25