
Jaques Station
Jaques Station war ein Kosmos für sich. Der riesige, schwebende Zylinder hing über Colonia wie ein Monument der Ausdauer – jeder Kratzer in den Wänden, jede Nachrüstung an den Docks erzählte von Jahren, in denen hier das Zentrum einer neuen Welt entstanden war.
Geraldine dockte die Anaconda an, ließ die Systeme herunterfahren und schlenderte durch die metallenen Korridore Richtung Exobiologie-Labor. In ihrem Speicher lagen ein paar Proben von der Reise – nichts Besonderes: ein Pilz, ein Strauch, ein paar unauffällige Lebensformen, die ihr unterwegs untergekommen waren. Mehr hatte sie nicht mitgenommen. Für sie zählte die Reise, nicht das Sammeln.
Das Labor war hell, steril, von Glaswänden und Displays durchzogen. Und mitten in dieser sterilen Umgebung fiel ihr sofort jemand ins Auge: eine junge Frau mit dunkelblauen Haaren, die wie ein lebendiger Kontrast zu den weißen Laborkitteln und grauen Geräten wirkten. Sie stand über eine Konsole gebeugt, summte leise vor sich hin und machte sich Notizen, als wäre sie allein in der ganzen Station.
Als Geraldine die Tür passierte, hob die Frau den Kopf – und strahlte, als hätte man ihr ein Geschenk gebracht.
„Oh! Neue Daten!“ rief sie und kam sofort näher, die Augen glänzend, voller Energie. „Darf ich sehen?“
Geraldine hielt ihr das Pad hin. „Es ist nicht viel. Nur ein paar Scans von unterwegs.“
„Nicht viel?“ Die Dunkelhaarige nahm das Gerät vorsichtig entgegen, als hielte sie ein Artefakt. „Das ist fantastisch! Sehen Sie hier – ein fungoid spire! Und das hier … das ist großartig. Wissen Sie, wie selten diese Kombination ist?“
Geraldine lehnte sich mit verschränkten Armen an den Tresen. „Ehrlich gesagt: nein. Ich habe nur kurz angehalten, gescannt und bin weiter.“
Die junge Frau sah sie an, als hätte sie gerade das größte Sakrileg begangen. „Sie sind … einfach weiter?“
„Ja. Ich hatte anderes zu tun.“
Anstatt verärgert zu wirken, lachte sie. „Dann haben Sie keine Ahnung, was Sie da in den Händen halten. Das ist das Beste! Wissen Sie, wie viel da draußen noch wartet? Ganze Ökosysteme, die niemand je gesehen hat. Strukturen, die sich über Kilometer ziehen, Muster, die sich selbst erklären…“
Sie sprach mit Händen und Stimme zugleich, malte Bilder von Landschaften und Pflanzen, als wollte sie sie direkt in den Raum setzen. Geraldine nahm einen Becher mit recyceltem Kaffee vom Automaten, setzte sich auf den Tischrand und beobachtete sie. Für sie waren es nur ein paar Proben – für die andere war es ein Universum.
„Und das machen Sie jeden Tag?“ fragte Geraldine schließlich.
„Jeden Tag,“ bestätigte sie ohne Zögern. „Ich könnte ewig so weitermachen. Jede Probe ist ein Stück Geschichte. Und Sie haben unterwegs bestimmt noch viel mehr gesehen, ohne es zu merken.“ Sie hielt kurz inne und wurde verlegen. „Also … nicht falsch verstehen.“
Geraldine lachte leise. „Keine Sorge. Sie erinnern mich nur daran, dass ich manchmal zu schnell durchs All hetze.“
Ein kurzer Moment Stille. Nur das Summen der Scanner im Hintergrund. Dann reichte die Dunkelhaarige ihr das Pad zurück, sah sie mit unverhohlener Offenheit an und sagte:
„Oh – ich hab mich gar nicht vorgestellt. Kathleen.“
Geraldine nickte. „Geraldine.“
„Freut mich sehr. Wirklich sehr.“
Als Geraldine das Labor verließ, summte der Name noch in ihr nach: Kathleen. Ein Name, der so gar nicht nach Routine klang – und der vielleicht mehr Bewegung in die kommenden Wochen bringen würde, als sie geahnt hatte.
Begegnung in der Bar
Die Bar von Jaques Station war ein Sammelbecken für Reisende, Händler und all jene, die zwischen Sprüngen nach einem Ort suchten, an dem man die Schwerkraft und ein Glas in der Hand spüren konnte. Das Licht war gedämpft, die Fenster zur Docking-Bucht zeigten ein Kaleidoskop aus Schiffen, die kamen und gingen. Stimmengewirr und das Summen alter Lüftungsanlagen mischten sich zu einem dumpfen Hintergrund, der jede Unterhaltung wie in Watte hüllte.
Geraldine trat ein, ließ den Blick durch den Raum schweifen. Am Rand des Saals erkannte sie die junge Frau aus dem Labor – die mit den dunkelblauen Haaren. Sie saß allein an einem Tisch und bemerkte Geraldine sofort. Ein kleines, zögerliches Winken, das dann deutlicher wurde.
Geraldine schmunzelte und ging hinüber. „Ist hier frei?“
„Natürlich, setzen Sie sich,“ antwortete die junge Frau eilig – und biss sich gleich auf die Lippe.
Geraldine hob eine Hand abwehrend. „Lass das, sag einfach du.“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der anderen. „Gut. Dann … setz dich.“
Kurz darauf brachte eine Bedienung zwei Gläser. Der Inhalt schimmerte in einem bläulichen Ton, süßlich-herb im Geruch. Kathleen grinste, als Geraldine daran roch. „Keine Sorge. Man kippt davon nicht gleich um.“
Sie stießen an, und das Gespräch kam wie von selbst in Gang.
Kathleen erzählte, dass sie auf Jaques Station lebte, seit sie denken konnte. Kein eigenes Schiff, nie weiter weg als die Systeme rund um Colonia. Alles, was sie besaß, floss in Scanner, Daten, ihre Forschungen. „Für mich ist Colonia schon die große weite Welt,“ gestand sie. „Alles dahinter ist … unvorstellbar.“
Geraldine hörte zu, antwortete knapp, aber nicht abweisend. „Man gewöhnt sich dran. Am Ende sind es auch nur Systeme. Aber … sie tragen dich. Manchmal besser, als Menschen es tun.“
Kathleen sah sie aufmerksam an. „Du redest von deinen Schiffen, oder?“
Geraldine nickte. „Ich habe einige. Der Carrier hängt draußen. Da passt alles rein, was ich brauche.“
Kathleen sog hörbar die Luft ein. „Ein Carrier … das ist eine ganze Flotte. Für mich klingt das wie ein Märchen.“
Geraldine lächelte flüchtig, doch es war mehr Melancholie als Stolz. „Es ist eher eine Sammlung. Jedes Schiff hat seinen Zweck. Manche bedeuten mir mehr als andere. Aber sie alle … erzählen meine Geschichte.“
Für einen Moment schwieg Kathleen. Ihre Augen leuchteten, als hörte sie nicht nüchtern zu, sondern stellte sich jede Welt, jedes Schiff vor. „Unglaublich. Ich würde gern einmal sehen, wie sich das anfühlt. Nur einmal raus, wirklich raus.“
Geraldine nahm einen Schluck. „Vielleicht ergibt sich das. Aber eines solltest du wissen: Wenn man erst draußen war, ist es schwer, wieder damit aufzuhören.“
Kathleen lachte, fast ein bisschen verlegen. „Dann klingt es wie eine Sucht.“
„Vielleicht ist es das.“
Die beiden redeten noch lange weiter – über Pflanzen, Planeten, Geschichten von unterwegs. Die Geräusche der Bar verschwammen, bis sie nur noch Stimmen füreinander waren.
Als sie später aufstanden, war es später geworden, als Geraldine geplant hatte. Kathleen lächelte offen. „Danke, dass du dich gesetzt hast. Ich hab das wirklich gebraucht.“
„Ich auch,“ sagte Geraldine. Und sie meinte es.
Missionsalltag und erste Ingenieure
Die Tage vergingen im Rhythmus von Sprüngen und Aufträgen. Colonia war kleiner als die Bubble, aber lebendig – jede Station, jedes Außenpostenbrett quoll über vor Missionen. Fracht, die bewegt werden musste. Materialien, die fehlten. Piraten, die den Handel störten.
Geraldine gewöhnte sich schnell daran, dass der Carrier wie eine zweite Haut bei ihr war. Er hing in einem Orbit, wartete geduldig, und sie wählte einfach das Schiff, das zur Aufgabe passte. Für große Transporte nahm sie die Cutter, deren Triebwerke ganze Frachträume voller Waren mühelos beschleunigten. Mit der Python erledigte sie gemischte Aufträge, landete auf kleinen Außenposten, wo keine Dockingeinrichtungen für Giganten existierten. Und wenn es ernst wurde, wenn Piraten jagten oder Stationen Schutz brauchten, startete sie mit der Fer-de-Lance.
Es fühlte sich an, als hätte sie eine ganze Werkzeugkiste im Rücken – und jede Mission zeigte ihr, wie sehr der Carrier sie unabhängig machte. Kein Warten auf Transfers, keine verlorene Zeit. Alles war da.
Zwischendurch meldete sich Amanda über Funk.
„Na, Admiral – schon Kolonistin geworden?“
Geraldine grinste, während sie die Python in einen engen Außenposten setzte. „Kolonistin? Eher Kurierin. Ich schleppe mehr Kisten, als mir lieb ist.“
„Das klingt vertraut.“ Amandas Stimme war trocken, aber im Hintergrund hörte man Lachen, Stimmen, vielleicht eine Bar. „Fremd ist es trotzdem, oder?“
„Noch,“ gab Geraldine zu. Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu: „Aber … ich habe hier jemanden kennengelernt. Kathleen. Arbeitet auf Jaques. Exobiologie.“
Eine Pause. Dann Amandas lakonische Antwort: „Eine Freundin?“
„Eher wie eine kleine Schwester.“
Ein kurzes Knistern, dann kam Amandas Stimme zurück – rau, aber mit einem Hauch Wärme: „Dann pass auf sie auf. Colonia frisst die Naiven schneller als die Bubble.“
Geraldine dachte noch an diese Worte, als sie aufbrach, um die ersten Ingenieure der Region aufzusuchen.
Petra Olmanova war die Erste. Ihr Stützpunkt war kaum mehr als ein Hangar, in dem es nach Schmieröl und Metall roch. Petra selbst trug eine abgewetzte Jacke, kurz geschorene Haare, und ihre Augen funkelten, als Geraldine eintrat.
„Du willst Panzerung. Alle wollen Panzerung. Bring mir die Legierungen, dann reden wir. Kein Smalltalk, keine Geschichten. Ich arbeite. Für alles andere habe ich keine Zeit.“
Geraldine nickte nur. „Dann kommen wir klar.“
Ein kurzes Aufblitzen von Respekt huschte über Petras Gesicht, bevor sie sich wieder den Werkbänken zuwandte.
Ein paar Tage später stand Geraldine bei Mel Brandon. Seine Werkstatt war das Gegenteil – Kabel hingen von der Decke, auf den Tischen stapelten sich Geräte, die aussahen, als gehörten sie eher in ein Museum. Irgendwo dudelte alte Musik aus einem Terraner-Radio.
„Ah! Besuch aus der Bubble,“ rief Brandon, als er sie sah. „Schiffe laufen?“
„Besser als ich manchmal,“ erwiderte Geraldine.
„Das ist ein guter Anfang.“ Er grinste schief, wischte sich die Hände an einem Lappen ab. „Lass mich deine Waffen sehen. Ich verspreche nicht, sie schöner zu machen, nur tödlicher.“
Geraldine mochte seine Art sofort – verschroben, aber ehrlich.
Zwischen den Werkstattbesuchen reihten sich Missionen an Missionen. Transporte, Bergungen, kleine Gefechte. Colonia war nicht so überlaufen wie die Kernwelten, aber genau deshalb war jeder Pilot gefragt.
Eines Abends nahm Geraldine eine Piratenjagd an. Ziel: ein Stützpunkt in den Ringen eines Gasriesen. Laut Daten sollten es drei bis vier Schiffe sein. Sie entschied sich für die Fer-de-Lance – schnell, wendig, mit genügend Biss.
Doch kaum fiel sie aus dem Supercruise, zählte sie mehr Signale. Vier schwere Gunships, flankiert von zwei Vultures. Eine Falle.
„Na großartig,“ murmelte sie, als die ersten Salven ihre Schilde trafen.
Das Gefecht brach los. Die FDL tanzte durch die Ringe, Trümmer und Eisbrocken flogen vorbei, während Geraldine ihre Laser einsetzte. Sie wechselte in engen Bögen, nutzte jede Lücke, schlug hart zu – und wich noch härter aus.
„Komm schon,“ knurrte sie, als die Anzeigen im gelben Bereich blinkten.
Die Vultures waren schnell, aber berechenbar. Sie brachte eine nach der anderen zum Schweigen. Doch die Gunships hielten durch, spien Raketen und gaben ihr keine Ruhe. Ein Treffer ließ die Cockpitbeleuchtung flackern, Warnanzeigen schrillten. Geraldine biss die Zähne zusammen, steuerte die FDL haarscharf durch eine Eisformation, während ihre Pulse-Laser die Schilde des Gegners rissen.
Eine halbe Stunde zog sich der Tanz hin. Geraldine schwitzte, ihre Finger glitten über die Steuerungen, jeder Zug war eine Entscheidung zwischen Sieg und Flucht. Schließlich brach der letzte Gunship auseinander, Trümmer verglühten im Licht des Gasriesen.
Geraldine lehnte sich zurück, atmete schwer. Die FDL war zerkratzt, Schilde im roten Bereich, Hülle angeschlagen. Sie hatte gewonnen – aber knapp.
„Verdammt,“ murmelte sie. „Mit der Corvette wäre das keine Frage gewesen.“
Zurück im Carrier standen Techniker schon bereit. Funken sprühten, Reparaturdrohnen schwärmten aus. Geraldine blieb im Eingang stehen, sah auf die beschädigte Hülle der FDL – und spürte gleichzeitig Stolz und Ernüchterung.
Sie griff nach dem Funk, schaltete Amanda durch.
„Noch am Leben?“ kam es trocken.
„Ja. Aber die Corvette hätte es besser gemacht.“
Ein kurzes Lachen. „Hab ich’s dir doch gesagt.“
Geraldine lächelte, schüttelte den Kopf – und dachte dabei an Kathleen. Sie hätte die ganze Mission wahrscheinlich als „Abenteuer“ bezeichnet, ohne auf die Risiken zu schauen. Amanda dagegen wusste genau, wie knapp es gewesen war.
Zwischen beiden Polen, so fühlte es sich an, bewegte sich ihr Leben in Colonia. Alltag, Arbeit, Begegnungen – und irgendwo darin die Suche nach dem, was sie wirklich wollte.
Das Mädchen, das hinauswollte
Die Hangartore des Carriers glitten auf, grelles Licht fiel über das Deck, während Mechaniker letzte Container sicherten und Drohnen über die Schiffe summten. Geraldine stand auf der Brücke, hörte das dumpfe Dröhnen, das durch den ganzen Rumpf vibrierte, und empfand für einen Moment Stolz: Das hier war nicht nur ein Schiff – es war eine kleine Stadt, und sie war das Herz davon.
Die nächsten Tage verliefen rastlos. Missionen, Aufträge, Materialbeschaffung. Einmal geriet sie in einen Hinterhalt, drei Piratenschiffe kreisten sie ein. „Na, schau mal einer an,“ höhnte einer über Funk, „die Admiral persönlich. Fehlt nur noch, dass du dein ganzes Arsenal auspackst.“ Geraldine grinste dünn. „Dann warte mal ab.“ Sekunden später brannten ihre Laser, und der Spott verstummte.
Die Arbeit führte sie auch zu den Ingenieuren.
Baltanos sprach kaum mehr als drei Sätze. „Mehr Panzerung. Härteres Material. Bring mir, was ich brauch.“ Dann wandte er sich wortlos ab, als hätte er schon entschieden, dass sie es ernst meinte.
Eleanor Bresa war das Gegenteil. Ihr Labor war hell, voller Bildschirme, und sie redete ununterbrochen. „Sehen Sie, diese Strukturen hier – wir können den Energiefluss so umleiten, dass die Kapazität um zwölf Prozent steigt! Und wenn man das moduliert—“ Geraldine nickte, hörte nur halb zu, aber die Begeisterung der Frau war ansteckend.
Zwischen all dem meldete sich Kathleen wieder. Eines Abends stand sie in der Bar von Jaques Station, ein Glas Wasser vor sich, als Geraldine hereinkam. „Nimmst du mich mal mit raus?“ fragte sie unvermittelt. „Nur ein Stück. Ich war noch nie … wirklich draußen.“
Geraldine musterte sie kurz, dann hob sie die Brauen. „Festhalten nicht vergessen.“
Sie suchten einen nahen Felsplaneten aus. Die Anaconda setzte hart auf, die Rampe fuhr aus, und wenig später ratterte das SRV über Geröll und Staub.
Für Geraldine war es Routine. Für Kathleen war es wie das erste Mal atmen.
„Unglaublich!“ rief sie, als sie sich vorbeugte. „Das sind fungoid spires! Sie regulieren Feuchtigkeit, bilden Muster … siehst du das? Sie kommunizieren fast!“
„Wenn du’s sagst,“ murmelte Geraldine, doch in ihrem Ton lag Wärme.
Kathleen kletterte hinaus, stolperte über einen Felsen, fing sich lachend wieder und fuhr unbeirrt fort, biologische Muster zu erklären, als hinge die Welt davon ab. Geraldine lehnte im Sitz, beobachtete sie, und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
„Du erinnerst mich an etwas,“ sagte sie, als Kathleen wieder einstieg.
„An was?“
„An mich. Vor langer Zeit.“
Für einen Moment schwieg Kathleen, dann strahlte sie. „Dann ist das wohl das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe.“
Als sie später abhoben, wirkte der Planet für Geraldine genauso grau wie zuvor. Aber in Kathleens Augen hatte er einen Glanz, den sie selbst längst nicht mehr gesehen hätte.
Zurück an Bord des Carriers rief Amanda durch. „Na, Admiral – schon Nachwuchs an Bord?“ Ihre Stimme war trocken, aber nicht ganz ohne Wärme.
Geraldine grinste. „Nur eine Forscherin, die zum ersten Mal Staub unter den Rädern hatte.“
Eine kurze Pause, dann kam Amandas Antwort: „Dann pass auf sie auf.“
Expedition mit Kathleen
Ein paar Tage waren vergangen. Geraldine hatte Missionen geflogen, Materialien beschafft, Ingenieure besucht. Alles lief nach Plan, aber es war dieses stille, leere „nach Plan“, das irgendwann schwer wurde. Deshalb schrieb sie eine kurze Nachricht – unspektakulär, fast nüchtern:
„Heute Abend? Kantine, Süd-Ring.“
Kathleen kam pünktlich. Sie trat mit diesem leicht unsicheren Schwung herein, den Menschen haben, wenn sie nicht wissen, ob sie erwartet werden – und strahlte sofort, als sie Geraldine entdeckte. Ihr dunkelblaues Haar schimmerte im grellen Licht der Kantine, in der metallische Tische und das Summen der Lüftung die Atmosphäre bestimmten.
„Ich hoffe, du hast nicht lange gewartet,“ sagte sie und setzte sich.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du kommst,“ erwiderte Geraldine knapp und schob ihr ein Menüpad hin.
Sie bestellten Stationseintopf und Nudeln, zwei Getränke, nichts Besonderes. Erst redeten sie über Belangloses: eine Andockschleuse, die am Vormittag ausgefallen war; ein Händler, der halbe Preise versprach, solange niemand nachrechnete; die mühselige Routine im Labor, wo Kathleen zwischen Proben und Tabellen verschwand.
Doch nach einer Weile veränderte sich der Ton. Kathleen erzählte von ihrer Arbeit, von Strukturen in Pilzsporen, die unter bestimmten Bedingungen fluoreszierten. „Wenn man lange genug hinschaut, fangen sie an, wie Karten auszusehen,“ sagte sie, und ihre Augen leuchteten dabei, als stünde sie längst wieder im Labor.
Geraldine hörte zu, nippte an ihrem Glas, und irgendwann legte sie es mit einem leisen Klonk ab.
„Weißt du, was dein Problem ist?“ fragte sie trocken.
Kathleen blinzelte. „Ich ahne Schlimmes.“
„Du siehst alles durch Mikroskope. Aber nie durch Fenster.“
Das brachte Kathleen zum Lachen, aber sie wurde auch stiller. Sie starrte einen Moment ins Glas, dann sagte sie: „Vielleicht, weil Fenster immer nur zeigen, was andere schon beschrieben haben. Ich habe noch nie gesehen, was dahinter liegt. Wirklich gesehen.“
Geraldine beugte sich leicht vor. „Dann solltest du das ändern.“
„Wie denn?“
„Indem du rausgehst.“
Kathleen lachte verlegen. „Das klingt, als würdest du mir einen Spaziergang vorschlagen.“
„Nicht ganz. Eher … Wochen. Raus aus Colonia, fern vom Lärm, Planeten, die niemand benannt hat. Ich hab die Schiffe, die Ausrüstung – was mir fehlt, ist jemand, der mehr sieht als Gestein.“
Kathleen hielt inne. Ihr Gesicht schwankte zwischen Überraschung und Unglauben, dann breitete sich ein langsames, ungläubiges Lächeln aus. „Du meinst … ich soll mit dir fliegen?“
„Ich meine, du solltest endlich wissen, wie es ist, wenn man wirklich draußen ist.“ Geraldines Stimme war ruhig, fast beiläufig, doch in ihren Augen lag ein Funkeln.
„Ich müsste meinem Prof erklären, dass ich nicht im Labor erscheine …“ murmelte Kathleen.
„Sag, dass du Feldforschung machst. Klingt wissenschaftlich genug.“
„Feldforschung im All?“
„Klingt besser als Stationseintopf.“
Kathleen lachte, diesmal laut und offen, so dass sich ein paar Köpfe im Raum drehten. „Du bist verrückt.“
„Vielleicht. Aber du willst doch hinaus.“
Es entstand eine Pause, in der nur das Summen der Luftfilter zu hören war. Dann nickte Kathleen, ernst und fest. „Gut. Ich komme mit.“
Am nächsten Morgen standen sie nebeneinander im Hangar des Carriers. Mechaniker rollten Container, Drohnen summten über glänzende Rümpfe. Vor ihnen lag die Anaconda, träge und mächtig, als sei sie selbst eine Station.
„Also das wird unser Zuhause für die nächsten Wochen?“ fragte Kathleen und versuchte, ihre Nervosität hinter einem Scherz zu verstecken.
„So ungefähr,“ erwiderte Geraldine. „Gewöhn dich dran. Sie ist störrisch, aber zuverlässig.“
Kathleen sah das Schiff an, als würde es gleich zu ihr sprechen. Geraldine beobachtete sie, und ein Gedanke stahl sich in ihr Bewusstsein: Amanda hätte jetzt irgendeine spitze Bemerkung gemacht. Kathleen aber schwieg, staunte – und dieser Unterschied war nicht besser oder schlechter, nur neu.
Geraldine aktivierte das Boarding. „Dann los.“
Kathleen nickte, strich mit den Fingern über die kalte Reling und trat die Rampe hinauf.
Die Expedition hatte begonnen, noch bevor das Schiff abhob.
Weite Horizonte
Der erste Start fühlte sich anders an als sonst. Kathleen saß angeschnallt auf dem Copilotensitz, beide Hände krampfhaft an den Lehnen, während die Anaconda brummend abhob. Für Geraldine war es Routine, doch sie bemerkte, wie der Blick der jungen Frau an jedem Display hängenblieb, als müsse sie alles gleichzeitig erfassen.
„Atmen,“ sagte Geraldine trocken, während die Station im Rückfenster kleiner wurde.
„Ich atme ja,“ kam es zurück, gepresst, aber mit einem Grinsen.
Die Tage wurden zu Schleifen aus Staub, Daten und Staunen.
Sie landeten auf namenlosen Welten, wo der Horizont sich so weit bog, dass er fast zerbrach. Geraldine fuhr das SRV über Geröll und Schluchten, während Kathleen sich mit dem Scanner vorbeugte, als könnte sie das Gerät allein durch Willen weiterreichen lassen.
„Siehst du das Muster? Die Sporen richten sich nach der Bodentemperatur. Das ist wie eine Sprache.“
„Für mich sind das bunte Punkte.“
„Dann lern, sie zu lesen.“
Kathleen stolperte mehr als einmal über Geröll, lachte jedes Mal und wischte sich Staub von den Knien, als sei das Teil des Rituals. Geraldine blieb meist still, doch manchmal überraschte sie sich selbst dabei, länger hinzusehen, wie Kathleen mit fliegenden Gesten erklärte, was sie sah. So hatte ich früher auch gebrannt, dachte sie, und der Gedanke war gleichzeitig süß und schmerzhaft.
Nacht für Nacht waren die Sterne dieselben – und doch anders. Wenn die Anzeigen dunkelblaues Schweigen meldeten und die Systeme nur leise summten, unterhielten sie sich. Über Forschung, über Reisen, manchmal auch über gar nichts. Geraldine war überrascht, wie leicht ihr das fiel.
Doch eines Abends meldete sich Amanda.
„Admiral. Du klingst … beschäftigt.“
„Nur draußen,“ erwiderte Geraldine.
„Und deine neue Assistentin?“ Die Stimme triefte vor Spott.
Geraldine atmete hörbar durch. „Sie ist keine Assistentin. Sie ist … eher wie Familie. Eine kleine Schwester, die zum ersten Mal Sterne sieht.“
Kurzes Schweigen, dann Amandas Stimme, rauer, leiser: „Schon gut. Pass auf sie auf.“
„Mach ich.“
Die Verbindung brach ab, und Geraldine starrte einen Moment ins Rauschen, bevor sie es ausschaltete. Kathleen hatte nichts davon mitbekommen, sie schlief in der Kabine – das Pad im Arm, als könne sie auch im Traum Daten sammeln.
Die Wochen vergingen, getragen von Staub, Licht und Datenströmen. Geraldine spürte, dass Kathleen kein Anhängsel war, sondern ein Katalysator. Die junge Forscherin zog sie aus dem reinen Missionsdenken heraus, zwang sie, mit anderen Augen zu sehen.
Am Ende der langen Tour standen sie wieder im Hangar, beide erschöpft, beide staubig. Kathleen drückte ihr Pad an die Brust, ihr Blick funkelte trotz der Müdigkeit.
„Jetzt verstehe ich, warum man rausfliegt,“ sagte sie.
Geraldine nickte nur. „Und ich, warum man zurückkommt.“
Sie tauschten keinen Plan für „nächstes Mal“. Aber es hing zwischen ihnen, klar wie ein Kurs, der längst im Navigationssystem gespeichert war.
Am Ende, zurück im Orbit von Colonia, saß Geraldine allein an der Panoramascheibe der Anaconda. Draußen glomm das ferne Licht der Stationen, darunter das matte Schimmern eines Gasriesen. Geraldine lehnte die Stirn an das kühle Glas, atmete tief durch und spürte ein Gemisch aus Erleichterung und Leere. Colonia lag zum Greifen nah, Amanda irgendwo darin – und doch fühlte es sich an, als habe die Reise sie schon jetzt verändert.
Schatten eines Ranges
Die Wochen nach ihrer Rückkehr nach Colonia hatten einen anderen Klang.
Diesmal war es kein Staunen, kein Entdecken. Es war Arbeit. Geraldine jagte Piraten, eskortierte Konvois, testete neue Konfigurationen. Marsha Hicks, die Ingenieurin am Rand eines trostlosen Außenpostens, hatte sie immer wieder mit trockenen Kommentaren abgespeist: „Mehr Daten, mehr Praxis. Wenn Sie was wollen, müssen Sie liefern.“
Also lieferte Geraldine.
Mit der Fer-de-Lance, manchmal mit der Corvette, flog sie Gefecht um Gefecht. Jeder Auftrag endete im Rauch einer brennenden Hülle, im trockenen Knistern der Credits, die auf ihrem Konto aufblinkten. Die Anzeigen auf ihrem HUD stiegen: Trefferquote, Abschüsse, schließlich auch der Rang.
Tödlich.
Das Wort erschien nüchtern, weiß auf schwarz. Für viele Piloten war es ein Traumziel – fast schon Legende. Geraldine sah es, blinzelte einmal, und schob den Blick beiseite.
Kathleen war anfangs begeistert gewesen. Sie verfolgte die Missionen über die internen Kanäle, klammerte sich an jedes Detail. Als Geraldine zurückkam, Staub auf der Rüstung, noch mit dem Geruch von verbranntem Metall in den Haaren, sah Kathleen sie an, als sei sie eine Figur aus Geschichte
„Tödlich,“ flüsterte sie einmal fast ehrfürchtig. „Weißt du, was das bedeutet? Die meisten schaffen es nie so weit.“
Geraldine zog die Handschuhe aus, legte sie wortlos ab und sah sie lange an. Dann sagte sie nur: „Es bedeutet, dass ich rechne. Mit Sekunden, mit Treffern. Mehr nicht.“
Kathleen schwieg, unsicher. Für sie war es Heldentum. Für Geraldine nur ein Titel, leer und kalt wie die Anzeige, die ihn vergab.
Später, allein in ihrer Kabine, ließ Geraldine den Kopf gegen die Rückwand sinken. Sie dachte an Amanda, die über so etwas nur gelacht hätte. Ein Rang ist ein Rang. Das bist nicht du.
Sie wusste, Amanda hatte recht. Doch als die Systeme wieder den Schriftzug Tödlich einblendeten, fühlte sie nur eines: eine Distanz. Zwischen sich und allen anderen.
Einige Tage später saßen sie in der Kantine des Carriers. Zwischen ihnen dampfte eine Kanne mit dünnem Stationskaffee, beide schweigend für einen Moment. Kathleen brach schließlich das Schweigen:
„Weißt du … du redest nie über sie.“
„Über wen?“
„Amanda.“
Geraldine hob den Blick, überrascht. Kathleen wich nicht zurück, auch wenn ihre Stimme leiser war. „Du erwähnst sie manchmal, aber … nie mehr als ein paar Worte. Als ob sie nur ein Schatten wäre.“
Geraldine legte die Hände um die Tasse, atmete tief durch. „Es ist … kompliziert. Amanda ist nicht einfach jemand. Sie ist …“ Sie stockte, suchte ein Wort, das nicht kitschig klang. „… der Mensch, der mich immer wieder fängt, wenn ich falle. Selbst dann, wenn sie mich eigentlich längst hätte loslassen können.“
Kathleen sah sie lange an, nickte schließlich und lächelte sacht. „Dann solltest du ihr das sagen. Man weiß nie, wie lange man Zeit hat.“
Geraldine sah zur Seite. Worte wie diese waren ihr fremd – zu offen, zu nah. Doch sie brannten sich ein.
Später, allein in ihrer Kabine, rief sie Amanda an. Der Bildschirm flackerte, dann erschien das vertraute Gesicht, kantig, entschlossen, mit diesem Blick, der immer etwas zwischen Ironie und Wärme schwankte.
„Admiral,“ sagte Amanda, wie immer, und Geraldine merkte, wie sehr ihr dieses spöttische Lächeln gefehlt hatte.
„Ich … wollte nur hören, wie es dir geht,“ begann Geraldine, ungewohnt vorsichtig.
Amanda zog eine Braue hoch. „Du? Smalltalk?“
Geraldine senkte den Blick, dann hob sie ihn wieder, fest. „Nein. Ich wollte dir sagen, dass … dass es ohne dich nicht das Gleiche ist. Jeder Sprung, jedes Gefecht, selbst die Siege – sie fühlen sich leer an, wenn du nicht da bist. Ich … brauche dich. Mehr, als ich je gedacht hätte.“
Ein Moment Stille. Amanda blinzelte, ihre Miene weich, ungewohnt offen. „Du weißt, dass du das nie sagen musst. Ich hab’s längst gewusst.“
Geraldine schüttelte den Kopf, fast trotzig. „Doch. Ich muss es sagen. Weil du das Wichtigste bist, was ich hier habe. Und weil ich nicht will, dass du je daran zweifelst.“
Amanda schwieg, doch ihre Augen sagten alles. Schließlich nickte sie nur, kaum sichtbar, und murmelte: „Dann pass auf dich auf, Admiral.“
Der Bildschirm erlosch, ließ nur das Summen der Systeme zurück. Geraldine blieb noch lange sitzen, die Stirn gegen die Hände gestützt. Zum ersten Mal seit Wochen ließ sie die Stille einfach zu – und merkte, wie sehr Amanda ihr fehlte.
Ein neuer Horizont
Drei Monate Colonia lagen hinter ihr. Drei Monate voller Routinen, voller kleiner Geschichten, die sie sich nicht einmal merken konnte. Und doch war etwas hängen geblieben: Kathleen.
Sie saßen zusammen in einer kleinen Bar auf Jaques Station, zwei Gläser zwischen sich. Kathleen sprach mit leuchtenden Augen, wie sie es immer tat, wenn das Thema Sterne aufkam.
„Manchmal denke ich, wir sehen nur den Rand. Alles, was wir erforschen, kratzt doch nur an der Oberfläche. Da draußen, im Zentrum … das ist die eigentliche Bühne.“
Geraldine legte das Glas beiseite, drehte es langsam mit den Fingerspitzen. „Sagittarius.“
Kathleen nickte, fast ehrfürchtig. „Das Herz. Ich habe Bilder gesehen, Simulationen. Aber selbst dort zu sein … das wäre etwas, das man nie mehr vergisst.“
Eine Weile schwiegen sie, jeder dem Gedanken nachhängend. Dann sagte Kathleen, leise: „Wenn du gehst … nimm mich mit.“
Geraldine hob den Blick. In Kathleens Augen brannte dieselbe Ungeduld, die sie selbst einmal gespürt hatte. Doch dahinter lag auch ein Zögern.
„Du kannst nicht,“ sagte Geraldine ruhig. „Du hast deine Arbeit hier. Dein Professor würde dich in Stücke reißen.“
Kathleen lachte leise, resigniert, und nickte. „Ja. Wahrscheinlich. Aber eines Tages … vielleicht.“
Später, zurück auf dem Carrier, öffnete Geraldine den Funkkanal. Amanda meldete sich nach wenigen Sekunden.
„Admiral. Du klingst … aufgeladen.“
Geraldine lehnte sich zurück. „Ich denke über das Zentrum nach. Über Sagittarius. Drei Monate Colonia waren gut, aber … ich brauche mehr. Ich will es sehen.“
Amanda schwieg kurz, dann zog sie eine Braue hoch. „Natürlich willst du das. Du und deine Horizonte.“
„Kommst du mit?“ fragte Geraldine, halb im Ernst, halb im Scherz.
Amanda schnaubte. „Nicht mein Ding. Aber …“ Ihre Stimme wurde weicher. „Wenn du dort bist, dann schick mir ein Bild. Ich will wissen, was dich so weit von mir wegzieht.“
Geraldine lächelte, fast unmerklich. „Versprochen.“
Später, allein im abgedunkelten Quartier, sah sie lange hinaus. Hinter dem Glas schimmerte das ferne Zentrum wie ein kaum sichtbarer Nebel. Ein neues Ziel formte sich in ihr, so groß, dass es alles andere überstrahlte.
Und sie wusste: Bald würde sie aufbrechen.