Kapitel 15 – Philippa

Philippa

Geraldine zog die Python durch einen weiten Sinkflug, kaum spürbare Triebwerkskorrekturen hielten sie auf Kurs. Unter ihr krümmte sich die Oberfläche eines namenlosen Planeten, rotbraun und durchzogen von silbrigen Felsadern. Die Sonne war schwach, ein kalter Punkt am Horizont. Aber das Licht reichte aus, um die Cockpitverkleidung in warmem Kupferglanz schimmern zu lassen.

Sie flog allein.
Und es fühlte sich nicht einsam an.

Die Python reagierte weich, direkt – wie ein Körper, den man kennt. Keine träge Diva wie die Anaconda, kein hyperaktiver Zwerg wie die Dolphin. Sondern genau dazwischen. Berechenbar. Verlässlich. Kein Schiff, das gezähmt werden musste. Sondern eines, das sich führen ließ, ohne dass man es spürte.

Sie grinste, als der Landeplatz sich näherte. Ein kleiner technischer Außenposten, einfache Mission: Datenspeicher lokalisieren, sichern, zurückkehren. Nichts, das nach Adrenalin schrie. Aber genau richtig für heute.

Der SRV ruckelte noch etwas beim Ausrollen, aber Geraldine hatte mittlerweile gelernt, wie man ihn zu nehmen hatte. Nicht zu hart einlenken, nie gegen die Federung arbeiten. Geduld – wie beim Fliegen. Oder bei Menschen.

Sie parkte neben einem leeren Hangarfeld, ließ das Fahrzeug herunterkühlen, stieg aus. Die Sonne war mittlerweile nur noch ein Schatten an der Krümmung des Himmels. Geraldine lehnte sich an die Python, direkt an den warmen Rumpf, der leise nachsurrte.

Und plötzlich… war da etwas.
Ein Gedanke.
Ein Bild.

Ein Mädchen.
Fünfzehn, vielleicht sechzehn.
Kurzes blondes Haar, zu dünn, zu laut, zu allein.

Geraldine war siebzehn gewesen, vielleicht achtzehn. Irgendwo auf einer Koloniestation, Nebendeck, schlecht beleuchtet. Wände voller Rostflecken, Luft nach Öl und billigem Alkohol. Das Summen der Maschinen vibrierte durch den Boden.

Der Typ war groß. Breit. Besoffen. Und wütend – dieser besonders eklige Wutmix aus gekränkter Männlichkeit und zu viel Schnaps.
Sein Fehler? Das Mädchen hatte gelacht. Nicht respektvoll, nicht verlegen – einfach gelacht.

Geraldine hätte wegsehen können. Sie hatte es sogar versucht. Nur kurz.
Aber dann war ihr Blick wieder hingewandert.

Der Kerl packte das Mädchen am Arm. Zog.
„Na, lachst du jetzt noch?“
Sie sah die Angst in den Augen des Mädchens. Winzig. Hinter einer Fassade aus Trotz.

Geraldine trat dazwischen. Keine große Heldengeste – mehr wie jemand, der keine Lust hat, diese Scheiße noch eine Sekunde länger zu sehen.
„Lass sie los.“

Der Rest verschwamm. Bewegungen. Fluchen.
Schläge, die sie nicht gezählt hatte.
Der metallische Geschmack von Blut.

Und dann: Stille.

Sie saßen beide auf dem Boden, Rücken an der Wand. Keuchend. Blutspuren – ihre, seine, egal.
Das Mädchen grinste. Schief, aber echt.
Geraldine lachte zurück. Ein absurdes, schräges Lachen, wie es nur Leute rausbekommen, die gerade etwas völlig Dämliches überlebt haben.

„Danke“, sagte das Mädchen.
„Ich heiße Philippa.“

Dann stand sie auf. Ging einfach. Keine Umarmung, kein „Wir sehen uns“.
Und Geraldine hatte sie nie wieder gesehen.

Sie war fast sicher gewesen, den Namen vergessen zu haben.
Fast.

Jetzt stand sie neben ihrer Python. Und wusste plötzlich, wie sie heißen musste.

Nicht weil es pathetisch war.
Nicht weil es heldenhaft war.
Sondern weil es passte.

Philippa.

Geraldine strich mit der Hand über die Hülle des Schiffs.

„Keine Ahnung, ob du das hören kannst“, murmelte sie. „Aber falls doch – danke.“

Krach im falschen System

Das Ziel war klar, der Job einfach: Piraten jagen in einem Grenzsystem, knapp innerhalb des imperialen Einflussraums. Geraldine hatte keine große Lust darauf – aber die Bezahlung stimmte, und Caitlyn war ohnehin mal wieder auslaufbereit.

Caitlyn, ihre Federal Corvette.
Zwei Millionen Tonnen schwerer Sarkasmus in Schiffsform.
Wenn sie flog, vibrierte der Carrier leicht mit.

Die Zielkoordinaten leuchteten auf dem HUD auf. Geraldine ließ sich in den Supercruise ziehen, hob einen Kaffeebecher – leer. Typisch. Noch nicht mal raus aus dem Frame Shift, und schon hatte das Universum gegen sie entschieden.

Dann: Interdiction.
„Na endlich.“

Sie konterte nicht. Es war ihr Job, rausgezogen zu werden. Sie zog freiwillig runter, bereit, ein paar Scans zu fahren und zu zeigen, dass sie auf der Seite der Guten stand. Zumindest für heute.

Im Normalraum warteten vier Signaturen. Zwei Typ-6, eine Kobra – und eine Eagle. Die Eagle tänzelte wie ein junger Hund auf Koffein, flog Kreise um die schwerfällige Caitlyn.

„Entweder total irre oder total neu.“

Geraldine aktivierte den Zielscan.
Verdacht auf Piraterie, nicht bestätigt.
Verhalten: aggressiv
Pilotenzugehörigkeit: Imperial – Aisling Duval
Status: Grün

Sie verzog das Gesicht.
„Von allen. Ausgerechnet du.“

Die Eagle zischte vorbei, ein Schuss streifte Caitlyns Schilde.

„Na gut. Du willst es ja so.“

Sie aktivierte die Waffen, visierte die Eagle an – und schickte ihr eine volle Salve Frust entgegen. Doch das Schiff war klein, schnell, wendig. Die Salve traf… teilweise. Die Eagle machte einen halben Loop, dann kam sie zurück.

„Oh komm schon. Das war doch nicht persönlich.“

Sie versuchte, ihn zu warnen. Funkspruch. Keine Reaktion.

Dann flog die Eagle direkt auf sie zu. Rammbockmanöver. Ernsthaft?
Geraldine zögerte.

Dummer Fehler.

Die Eagle feuerte, traf den Schildrand. Nicht viel Schaden – aber genug, dass Geraldine’s Finger reflexartig den Feuerknopf durchdrückte.
Ein Flakstoß, präzise.
Zwei Sekunden später: Nichts mehr übrig außer ein paar Trümmer und eine verkohlte Landekapsel, die leise über den Horizont driftete.

Stille im Cockpit.
Dann: Ping.

Warnmeldung.
Imperiale Gerichtsbarkeit: Angriff auf Verbündete.
Status: Kopfgeld aktiv. Fahndungsstufe 5.
Eintrag ins Strafregister: Fraktion – Aisling Duval.

„Ach. Du. Scheiße.“

Sie öffnete das Log.
Dort stand es. Schwarz auf weiß:

„Imperiales Straflevel 5: Gesucht. Keine Toleranz bei Regelverstößen. Aufhebung nur durch autorisierte Kontaktperson oder durch Fraktionsbestechung.“

Sie war offiziell eine Gefährderin der öffentlichen Ordnung.
Wegen einer durchgeknallten Eagle mit Gottkomplex.

„Was kommt als nächstes? Ein Steckbrief mit meinem Jugendbild?“

Caitlyn summte leise, als wäre sie nicht ganz unschuldig.

Geraldine flog zurück in den Supercruise, ließ sich treiben, ohne Ziel.
Sie wusste, dass es Konsequenzen hatte. Nicht wegen des Kopfgelds. Das war kalkulierbar.
Aber weil sie etwas in sich spürte, das sie seit Wochen ignoriert hatte.

Dieses… leise Knistern.

Blaue Stunde

Die automatische Schiebetür schloss sich hinter Geraldine mit einem leisen Zischen Amanda saß bereits in der kleinen Küchenzeile des Carriers, barfuß, die Füße auf dem Tisch, ein Tablet in der einen Hand, eine Gabel in der anderen. Auf dem Display: Geraldines aktuelle Kopfgeldbewertung. Natürlich.

„Du hast ein Kopfgeld.“

Geraldine blieb stehen.

„Guten Morgen auch.“

Amanda schob das Tablet zur Seite. „Fünf Punkte. Imperial. Das ist nicht nichts.“

Geraldine ließ sich auf die Bank gegenüber fallen, rieb sich die Stirn.

„Eagle. Kleiner Irrer. Ich hab aus Versehen getroffen, er hat’s persönlich genommen. Danach war’s kein Versehen mehr.“

Amanda hob die Augenbraue. „Und du bist sicher, dass du keine Sozialstunden brauchst?“

„Würde mir wahrscheinlich sogar guttun.“

„Denk dran, wie viel du für diese verdammten Prismaschilde gemacht hast.“
„Und jetzt hab ich sie. Reicht das nicht?“

Amanda trank einen Schluck von dem, was sie „Kaffee“ nannte und niemand sonst.
Dann lehnte sie sich zurück. Ihr Blick war ruhig, aber direkt.

„Was willst du eigentlich von Aisling? Ehrlich.“

Geraldine schwieg.

„Die Stimme? Die Farbe? Die Träume?“

Noch immer keine Antwort.

Amanda zuckte mit den Schultern. „Weißt du, was ich glaube? Du hast dir das nie wirklich überlegt. Sie war da, sie war laut, sie war hübsch. Und du warst müde.“

Geraldine ließ den Kopf gegen die Wand sinken.
„Und du willst mir jetzt sagen, dass du dich nie irgendwo angeschlossen hast, nur um was zu fühlen?“

Amanda schnaubte. „Doch. Aber ich bin früher aufgewacht.“

Sie standen eine Weile still in diesem Moment. Der Raum summte leise, der Carrier arbeitete im Hintergrund.

„Ich kündige“, sagte Geraldine.

„Jetzt?“

„Heute.“

Amanda nickte. Kein Kommentar. Kein Applaus. Nur diese stille Zustimmung, die wie ein doppelter Boden wirkte.

Geraldine zog das Terminal heran, tippte sich ein, ging durch das Menü.
Powerplay > Verbunden mit: Aisling Duval > Optionen > Allianz kündigen > Bestätigen?

Ein letzter Klick.

Der Bildschirm wurde neutral. Kein Banner, kein Abzeichen. Nur: Unabhängig.

„Fühlt sich gut an“, sagte Geraldine leise.
„Natürlich tut’s das“, murmelte Amanda. „Du bist nicht blau. Du bist… grau. Mit rotem Einschlag. Vielleicht etwas Jet.“

„Danke, Farblehre.“

Amanda stand auf, warf die Kaffeetasse in die Spüle.
„Ich sag dir was. Wer seinen eigenen Kopf behalten will, darf ihn nicht lackieren lassen.“

Sie ging zur Tür, blieb aber stehen, ohne sich umzudrehen.

„Guter Schritt, Geraldine.“

Dann war sie weg.

Und Geraldine saß da, allein – aber diesmal nicht zerrissen.
Nur… klar.

Geschwindigkeit, Gewicht und ein Schrammer zu viel

Die Cutter hob ab, mit dem Gewicht von 700 Tonnen Bioprodukten, die nach Knoblauch rochen, obwohl sie angeblich versiegelt waren. Das Zielsystem war nur drei Sprünge entfernt. Die Missionen liefen glatt. Keine Piraten. Kein Drama. Nur Kreditpunkte – und das Gefühl, wieder etwas aufzubauen.

Dann kam Ising Dock.
Große Station. Viel Verkehr. Und eine Landeanweisung auf Pad 02 – ganz außen, ganz nah am Seitenrahmen.

„Na großartig.“

Geraldine ging auf Einflugkurs, Geschwindigkeit leicht über Soll. Die Cutter zog ein wenig nach rechts – Trägheit. Kein Problem.

Dann, kurz vor der Drosselung, meldete das Steuerbordtriebwerk ein winziges Ungleichgewicht. Und als sie korrigieren wollte, reagierte das Schiff…

Zu spät.

„Nicht jetzt. Nicht hier.“

Ein schrilles Kreischen durchfuhr das Cockpit – das Geräusch von legiertem Metall, das dort entlangschrammte, wo kein Metall entlangschrammen sollte. Dann ein dumpfer Stoß, Vibrationen, ein kurzes Lichtflackern im Hauptsystem. Die Cutter drehte sich leicht zur Seite, fing sich dann wieder – und stand. Nicht hübsch. Aber stand.

Stille.

Dann:
„Willkommen bei Ising Dock. Bitte kontaktieren Sie das Sicherheitsteam.“

Geraldine rieb sich mit zwei Fingern die Schläfen.
„Ich hab’s verstanden, okay.“

Zehn Minuten später, in der Wartungszone.
Ein Techniker stand vor dem rechten Landeträger, Arme verschränkt, Miene neutral-professionell – aber mit diesem leichten Grinsen, das sagte: Jep. Das haben alle gesehen.

„Mutige Einflugkurve“, sagte er.

„Ich nenne es innovativ.“

„Andere nennen’s… naja. Kollision mit Stil.“

Ein zweiter Techniker kam hinzu.
„Sag mal – ist das deine Cutter?“

„Kommt drauf an, wie du die Frage meinst.“

„Die, die eben beim Reinkommen fast Pad 03 gestreift hat?“

Geraldine seufzte.
„Ja. Und sie ist sehr sensibel, also sprich leise über sie.“

Die Techniker lachten leise. Kein Spott. Nur das typische Dock-Gespräch, wenn jemand einen Tick zu schnell war – und alle es gesehen hatten.

Später, zurück auf dem Carrier, stand die Cutter wieder dort, wo sie hingehörte – repariert, neu lackiert, aber mit dem unterschwelligen Stolz eines Schiffs, das gerade eine Geschichte mehr erzählen konnte.

Geraldine lehnte sich ans Geländer des Hangardecks.
Kein Wort. Nur ein Blick. Und dieses Gefühl, das sich langsam, leise breit machte:
Das Ding ist furchtbar. Aber es ist meins.

Amanda trat hinter sie, blieb stehen.

„Du wirst sie behalten.“

Geraldine nickte.
„Natürlich.“

Amanda verzog den Mund. „Dann gewöhn dich dran, dass du sie nicht retten kannst. Du musst sie nur fliegen, als würde sie’s selbst wissen.“

„Ich flieg sie wie eine Königin.“

„Du fliegst sie wie ein Frachter mit Attitüde.“

Geraldine grinste.
„Also wie mich.“

Namen, Nächte und die Frage nach Bedeutung

Die Flasche war fast leer, das Glas halbvoll, die Stimmung irgendwo zwischen albern und ehrlich.

Amanda hatte sich in den Sitz gedrückt, die Stiefel abgestreift, und schob mit einem Finger ihr Glas in kreisenden Bewegungen über den Tisch. Geraldine saß ihr gegenüber, einen leichten Rotstich im Gesicht, die Beine angezogen, die Haare zerzaust wie nach einem Kurzurlaub im Vakuum.

„Also“, sagte Amanda, „du hast jetzt… was? Acht Schiffe? Und keins hat ’nen Namen?“

„Ich hatte anderes zu tun“, murmelte Geraldine.

„Bitte. Du benennst ganze Frachtsätze nach Laune, aber deine Schiffe heißen ‚Core Dynamics XY-Zehntausend‘?“

„Muss ja nicht jeder alles personifizieren.“

„Bullshit. Du fliegst sie, du reparierst sie, du redest mit ihnen. Die haben längst Namen – du sprichst sie nur nicht aus.“

Geraldine sah sie an.
Dann seufzte sie.
Und hob zwei Finger.

„Okay. Aber du lachst nicht.“

„Versprochen.“

Geraldine lehnte sich zurück, schloss kurz die Augen.

„Die Python. Philippa.“

Amanda nickte langsam. „Klingt nach einer, die dich auch bei Gegenwind nicht im Stich lässt.“

„Hat sie auch nicht.“

„Nächste.“

„Die Anaconda…“ Geraldine zögerte. „…hat noch keinen.“

Amanda grinste. „Respekt. Du weißt, wann’s noch zu früh ist.“

„Die Dolphin… keine Ahnung. Die ist wie ein Taxi, das dich immer unterschätzt.“

„Dann nenn sie Ute.“

Geraldine prustete los. „Nein. Nein. Bitte nicht. Ich kann keine Raumschiffe nach Steuerberaterinnen benennen.“

„Dann… lassen wir das offen.“

Ein paar Schlucke später.

„Die Cutter“, sagte Geraldine.
Amanda hob eine Augenbraue.
„Na?“

Geraldine lächelte schief.
„Die verdient was Kompliziertes. Irgendwas zwischen Liebe, Wahnsinn und Blechschaden.“

„Wie wär’s mit – wir denken morgen drüber nach?“

„Deal.“

Sie saßen noch eine Weile so da, redeten nicht mehr viel.
Der Carrier schwebte ruhig durch die Nachtseite eines Planeten.
Draußen rotierten Sterne, drinnen saßen zwei Pilotinnen, ein bisschen betrunken, ein bisschen ehrlicher als sonst.

Geraldine blickte auf das Schiffsdatenpad.

Philippa – registriert.
Anaconda – unbenannt.
Cutter – ausstehend.
Dolphin – nein, nicht Ute.

Sie schloss das Pad, trank aus.

„Weißt du“, sagte Amanda, „Namen sagen nicht, was ein Schiff ist. Sie sagen, was es für dich bedeutet.“

Geraldine nickte.
„Deshalb dauert’s manchmal.“

Amanda stand auf, wankte leicht, und tappte barfuß zur Kabine.

„Philippa passt“, sagte sie noch, ohne sich umzudrehen.

Dann war sie weg.

Kapitel 16