
Kein Ziel, nur Nähe
Der Kaffee war lauwarm. Geraldine wusste das, bevor sie ihn überhaupt probierte. Amanda trank trotzdem. Weil sie so war.
Sie saßen nebeneinander an einem dieser Tische auf Deck 7 – mit Blick auf das Hangardeck. Unten dockte gerade ein Transporter ab, Triebwerke glühten kurz auf, bevor sie im Dämpfungsschirm verschwanden. Geraldine starrte dem Licht hinterher.
„Du wirkst, als wär dir was entwischt“, sagte Amanda.
„Nur ein Gedanke.“
„Ein gefährlicher?“
„Ein teurer.“
Amanda grinste. „Das klingt nach dir.“
Geraldine sagte eine Weile nichts. Dann:
„Weißt du eigentlich, wie viele Schiffe ich hab?“
„Zähl selbst.“
„T9, Corvette, Beluga, Mamba… die Dolphin hatte ich fast vergessen. Weiß gar nicht, wo die steht. Vielleicht irgendwo in Aditi oder HIP-irgendwas.“
Amanda zog eine Braue hoch. „Du hast eine Dolphin?“
„War mal für Passagiere. Ich hab’s gehasst.“
„Und trotzdem behalten?“
„Vergessen. Bis jetzt.“
„Wie romantisch.“
Geraldine schnaubte. „Gestern hab ich fast 600.000 für einen Transfer gezahlt. Und das war nicht mal ein großes Schiff.“
„Vielleicht brauchst du weniger davon.“
„Vielleicht bräuchte ich…“ – sie stoppte. Sah wieder runter aufs Hangardeck.
Die Corvette stand dort, träge, majestätisch. Wie ein Denkmal, das sie selbst nicht richtig verstand.
Amanda nahm noch einen Schluck. „Oder du brauchst weniger Chaos. Ist auch ne Option.“
Geraldine sagte nichts. Aber der Gedanke saß. Tiefer, als sie zugeben wollte.
Stille. Nur das Dröhnen der Station irgendwo im Unterbau.
„Wenn du dein ganzes Zeug verlierst“, sagte Amanda plötzlich, „würde das was ändern?“
„Weiß nicht. Vielleicht wäre das einfacher.“
„Du meinst: auf Null?“
„Ich mein: unter Kontrolle.“
Amanda sah sie lange an. Dann lehnte sie sich zurück.
„Klingt nicht nach Aufbruch. Klingt nach Fundament.“
Geraldine blickte nicht auf. Aber sie hörte jedes Wort.
Zwischen Stationen
Geraldine saß auf dem Rand ihres Quartierbetts, das Terminal auf den Knien. Ihre Liste war lang. Zu lang. Schiffe, Standorte, Wartungskosten, Versicherungen, Modultransfers – ein logistischer Albtraum in Tabellenform.
Amanda stand an der Wand, Arme verschränkt, Blick auf den Bildschirm.
„Du führst ein kleines Königreich.“
„Eher ein Haufen verlassener Außenposten.“
„Was ist das da? Die Mamba?“
„Mamba steht in LHS 3006. Ich glaub, mit leerem Tank.“
„Praktisch.“
„Die Beluga ist irgendwo in CD-75. Die hab ich mal für Föderationsmissionen gekauft.“
„Beluga für Missionen?“ Amanda lachte leise. „Du bist unheilbar.“
„Und die T9… steht in Shinrarta. Vollgepackt. Keine Ahnung womit.“
Amanda trat näher, sah auf den Bildschirm. Geraldine spürte die Wärme neben sich – sie war ihr zu nah, aber nicht unangenehm nah.
„Du sammelst Dinge wie andere Piloten Abschussmarken.“
„Ich verliere Dinge. Wenn ich sie nicht binde.“
Amanda sah sie schief an. „Klingt wie ein romantischer Satz, wenn man ‚Schiffe‘ durch ‚Menschen‘ ersetzt.“
Geraldine grinste nicht. Aber sie dachte darüber nach.
Sie scrollte weiter, langsam, ihre Finger auf dem Touchpad leicht verkrampft.
Irgendwann fragte sie: „Hast du je darüber nachgedacht, etwas zu besitzen, das bleibt?“
Amanda antwortete nicht sofort. „Ich hatte mal ein Schiff, das ich mochte. Wurde mir weggenommen.“
„Piraten?“
„Nein. Behörden. Länger her.“
„Und danach?“
„Hab ich gelernt, dass Zugehörigkeit keine Ausstattung braucht.“
Stille.
Geraldine ließ die Finger sinken. Sie sah nicht Amanda an, sondern irgendwo ins Off.
Was ist das? Was passiert da gerade?
Ich kenne das nicht. Ich weiß nicht, wohin das führt.
Ich weiß nur, dass sie bleibt, während alle anderen gehen.
Und dass es sich… richtig anfühlt. Vielleicht zu richtig. Vielleicht zu spät.
Sie klappte das Terminal zu. „Ich muss aufräumen.“
„Fang mit der Dolphin an.“
„Ich fang mit mir an.“
Amanda nickte. „Dann mach das nicht allein.“
Kein Zuhause, nur Fluchtvektoren
Der Aufenthaltsbereich war leer. Ein Deck tiefer, kein Blickfeld, nur rohes Metall, ein paar Spinde, zwei Sitze. Geraldine hatte Amanda dorthin mitgenommen, ohne viel zu sagen. Sie hatten beide zu wenig Schlaf und zu viel im Kopf.
Amanda saß auf dem Boden, lehnte sich gegen die Wand, eine Wasserflasche in der Hand. Geraldine hockte auf einer umgedrehten Kiste. Kein Plan, kein Ziel – einfach nur Stille.
„Du hast gefragt, ob ich je was besitzen wollte, das bleibt“, sagte Amanda irgendwann.
Geraldine nickte. Kein Drängen.
„Ich bin aufgewachsen auf einer Station ohne Namen. Nur eine Kennung – H-38-B. Drei Docks, keine Regeln. Die Leute da draußen nannten sie ‚die Möwe‘. Frag mich nicht, warum. Vielleicht, weil sie sich von Schrott ernährte.“
Amanda sprach ruhig. Nicht abgeklärt – nur… fertig damit.
„Meine Mutter war Technikerin. Kein großes Ding. Hat für Wrackteile gesorgt, für Schmuggler. Mein Vater war… keine Ahnung. Irgendein Pilot, irgendein Arsch. Ich war sieben, als ich verstand, dass er nicht wiederkommt. Ich war acht, als das egal wurde.“
Geraldine sagte nichts.
„Auf der Station hab ich gelernt, wie man überlebt. Wie man Leitungen flickt, wie man eine Luftschleuse notentriegelt, wie man auf sich selbst aufpasst. Vertrauen war was für Leute, die sich’s leisten konnten.“
Ein leiser, schmaler Ton lag in ihren Worten. Kein Selbstmitleid. Nur Erinnerung.
„Mit fünfzehn war ich in einen Zwischenfall verwickelt. Zwei Typen, eine gestohlene Ladung, ein blutiger Fehler. Ich hätte dafür gehen müssen. Stattdessen hat mich eine Föderationspilotin aus dem Dreck gezogen. Kein Deal. Kein Versprechen. Nur: ‚Komm mit, oder stirb hier.‘ Ich bin mit.“
„Und du bist geblieben?“
Amanda schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab ein Schiff übernommen. Einen Namen angenommen. Eine Route gewählt. Ich bin nie geblieben. Nur unterwegs.“
Stille.
„Und jetzt?“, fragte Geraldine leise.
Amanda sah sie an. Lang. Klar. Dann sagte sie:
„Jetzt sitze ich hier mit dir – und das ist das Erste, was sich nicht nach Weglaufen anfühlt.“
Geraldine senkte den Blick. Der Satz traf härter als alles, was sie bisher gehört hatte. Nicht wegen der Worte. Sondern wegen der Ehrlichkeit dahinter.
„Und wenn das bleibt?“, fragte sie.
Amanda zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Dann überleben wir das auch.“
Geraldine lachte leise. „So redet niemand, der nicht fühlt.“
„So redet jemand, der weiß, wie schnell alles weg sein kann.“
Ein Moment, der blieb.
Kein Wort zu viel
Die Station vibrierte leise unter ihnen – irgendein Schubvorgang, irgendwo unter Deck. Amanda und Geraldine hatten die Aufenthaltszone verlassen und saßen jetzt in Geraldines Quartier.
Es war spät. Nicht mehr die Zeit für Worte, aber auch noch nicht die Zeit für Abschied.
Amanda hatte sich einfach auf das Bett gesetzt. Wie selbstverständlich. Geraldine stand noch. In Bewegung, in Gedanken, in sich selbst gefangen.
„Setz dich doch“, sagte Amanda irgendwann. Nicht fordernd. Nur ein Vorschlag.
Geraldine tat es. Sie ließ sich neben Amanda nieder, nicht ganz nah, aber nicht fern genug, um neutral zu bleiben.
Ein Moment verging.
„Du weißt jetzt eine Menge über mich“, sagte Amanda.
Geraldine nickte. „Mhm.“
„Und ich weiß fast nichts über dich.“
Ein kurzer Blick.
„Möchtest du, dass ich frage?“
Geraldine sah auf ihre Hände. Überlegte. Dann:
„Nicht heute.“
Amanda nickte. „Okay.“
Keine Nachfrage. Keine Spannung. Nur: Akzeptanz.
Und genau in diesem Okay spürte Geraldine mehr Nähe, als sie in einem ganzen Jahr erlebt hatte.
Ich weiß, dass ich es ihr irgendwann erzählen muss.
Wenn sie mir wirklich etwas bedeutet – und das tut sie – dann muss sie es wissen.
Aber nicht heute. Nicht jetzt.
Und dass sie das versteht, ohne ein Wort zu verlieren…
Das ist neu für mich.
Und irgendwie – beruhigend.
Sie rückte näher. Nur ein wenig. Amanda bewegte sich nicht. Sie war einfach da.
Geraldine lehnte sich zurück, ganz leicht, bis ihre Schulter Amandas berührte. Kein Ausweichen. Kein Einatmen. Nur eine neue Art von Stille.
„Danke, dass du nicht fragst“, sagte sie.
„Ich warte gern“, antwortete Amanda.
Und dann sagte niemand mehr etwas. Weil Worte in diesem Moment alles nur kaputtgemacht hätten.
Ich will so ein Ding
Die Station war stiller am Morgen. Weniger Stimmen auf den Korridoren, gedämpftere Schritte, das Summen der Systeme wie ein Hintergrundrauschen, das niemand mehr wahrnahm.
Geraldine saß allein in ihrer Kabine. Amanda war gegangen. Nicht leise, nicht fluchtartig – einfach gegangen, wie jemand, der wusste, dass Nähe nicht durch Anwesenheit definiert wird.
Ein Glas Wasser stand noch da. Frisch gefüllt. Geraldine wusste, dass Amanda es absichtlich dagelassen hatte. Keine Nachricht. Keine Worte. Nur: Ich war da.
Sie saß am Terminal. Die Schiffliste war wieder geöffnet.
T9 – Shinrarta
Mamba – LHS 3006
Beluga – CD-75
Dolphin – vergessen
Corvette – hier
Zerstreut wie ihr Kopf. Und ihr Herz.
Sie klickte auf „Transferkosten“. Eine Reihe Zahlen erschien.
Sie schnaubte leise.
„Ich könnte für das Geld ein eigenes verdammtes Schiff parken.“
Dann scrollte sie weiter.
Ein Tab, den sie sonst ignorierte.
Fleet Carriers.
Fünf Milliarden.
Die Zahl stand da, als würde sie sich über sie lustig machen.
Sie hatte knapp eine Milliarde – verdient mit Schweiß, Lasern, endlosen Stunden in dunklen Gesteinsfeldern. Und jetzt war Mining kaum noch profitabel. Preise gefallen. Märkte leer. Kein schneller Weg mehr.
Aber da war dieser Gedanke. Diese Idee. Dieses Gefühl:
Ein Ort.
Ein Zuhause.
Keine Suche mehr nach verstreuten Teilen meines Lebens.
Keine Schiffe mehr, die ich vergesse.
Keine Momente mehr, die ich verliere, weil ich zwischen Systemen hänge.
Sie dachte an Amanda.
An das Wasser.
An das „Okay“.
An das Schweigen, das mehr sagte als jede Umarmung.
Dann lehnte sie sich zurück, atmete einmal durch – tief, ruhig, wach.
Und sagte laut:
„Ich will so ein Ding.“