Kapitel 9 – Vielleicht nicht was ich wollte

Ruhe vor dem Sturm

Die Bar war wie jede andere da draußen – schummrig, zu laut, nach innen gebaut. Kein Blick ins All, keine Fenster. Nur ein durchgesessenes Interieur aus Metall und Dreck, das vorgab, Geschichte zu haben. Geraldine mochte solche Orte nicht, aber Amanda hatte diesen ausgesucht. Natürlich hatte sie das.

Sie saß schon da, als Geraldine eintrat. Lehne zurück, ein Glas in der Hand, als wäre sie gerade zufällig vorbeigekommen – dabei roch der Tisch nach Anspruch. Ihr Blick wanderte kurz über Geraldine, dann zum Glas, dann wieder zurück.

„Na, große Reden und große Schiffe – aber nicht in der Lage, pünktlich zu sein?“ Amanda hob eine Braue, ohne die Miene zu verziehen.

Geraldine ignorierte das. Sie setzte sich ihr gegenüber, langsam, kontrolliert. „Ich wollte vorher nochmal nachsehen, ob mein Cockpit noch da ist. Man verliert leicht die Übersicht, wenn man ein ganzes Deck alleine bewohnt.“

Amanda grinste schräg. „Oh, die Corvette. Schon eingeweiht?“

Ein kurzes Zögern. Geraldine trank, bevor sie antwortete. Der erste Schluck brannte. „Noch nicht. Nur Trainingsflüge, Zielsysteme, Schildkalibrierung. Alles, was keine Geschichte schreibt.“

„Also nichts, was zählt.“

Geraldine sah sie an. „Du klingst wie einer dieser Typen, die einem erklären wollen, was Kampf bedeutet, nachdem sie einmal am Kommandositz eines Sidewinders gesessen haben.“

„Vielleicht. Aber ich erklär dir nicht den Kampf. Ich erklär dir dich.“ Amanda lehnte sich nach vorne. „Du denkst, du hast’s geschafft. Corvette, Föderationsrang, aufgemotzt bis in den letzten Slot. Und trotzdem wartest du. Du fliegst nicht raus. Warum?“

Geraldine schwieg.

„Weil du Schiss hast, dass du sie nicht beherrschst.“

Es war kein Vorwurf. Keine Beleidigung. Einfach nur gesagt. Trocken wie der Drink, den sie leer machte.

„Du hast eine Einladung. Morgen. Einsatz im Tsurubo-System. Offiziell unbestätigt, inoffiziell stressig. Ich fliege. Du kommst mit. Und bevor du’s fragst – nein, nicht weil ich Hilfe brauche.“

Geraldine verzog keine Miene. „Sondern?“

Amanda zuckte die Schultern. „Vielleicht weil ich sehen will, ob du’s kannst. Oder weil ich wissen will, was passiert, wenn du’s nicht kannst.“

Sie standen gleichzeitig auf. Zwei Welten, die sich kannten, aber noch nie berührt hatten.

Bevor sie ging, warf Amanda noch einen letzten Blick über die Schulter.
„Oder hast du Angst, dass du mir was schuldest?“

Geraldine antwortete nicht. Aber sie war am nächsten Morgen da.

Die Rettung

Tsurubo 4 c war ein grauer Mond mit zu vielen Kratern und zu wenig Deckung. Geraldines Corvette schwebte knapp über der Oberfläche, Scanner aktiv, Waffen geladen. Sie war vorbereitet – technisch gesehen. Emotional war es ein anderes Kapitel.

Im Cockpit war es still. Zu still.

Sie hörte das Surren der Kühlsysteme. Den leisen Klick ihrer Handschuhe auf dem Touchpanel. Ihren eigenen Atem im Helm – regelmäßig, kontrolliert, fast mechanisch.
Das ist nur ein Einsatz. Das ist nur ein verdammter Einsatz.

Aber es war der erste mit diesem Schiff. Und in ihrem Nacken saß die Angst, dass alles ein Fehler gewesen war.

„Zielkontakte auf Gitter 3C, Formation gestaffelt“, meldete Amanda über Funk. Ihre Stimme war, wie sie immer war: klar, direkt, störend souverän.

„Ich hab sie“, sagte Geraldine und schaltete auf Angriffsmodus.
Die Waffen erwachten. Der Puls stieg.

Beim ersten Anflug lief alles glatt. Ihre Schüsse trafen, das Schiff reagierte präzise. Aber dann – Koordinatenänderung, mehrere Gegner, ein Angriff aus totem Winkel. Die Corvette rollte zu langsam, die Schilde schrien auf.
Einer der Gegner klemmte sich direkt in ihre Flanke, unterlief ihre Manöver.

„Scheiße“, murmelte sie und riss das Schiff in den Sturzflug.
Zu schwer. Zu spät.

„Backbord ist offen, du musst raus“, kam Amandas Stimme.

„Ich krieg ihn—“
Ein harter Einschlag. Systemstörung. Die Anzeige flackerte. Plötzlich war alles zu groß. Zu träge. Die Corvette fühlte sich an wie ein schlafender Riese.

Warnsignale. Hüllenschäden. Triebwerkskompensation offline.
Geraldine biss die Zähne zusammen. Nicht hier. Nicht so.

Dann – Funkrauschen. Dann Amandas Stimme, scharf wie ein Schnitt.
„Verdammt, Geraldine! Raus da. Jetzt!“

Sie sagte nichts. Konzentrierte sich auf den Kurs, suchte irgendeine Öffnung.

„Vertrau mir. Ich nehm sie dir ab.“

Und sie tat es.
Wie aus dem Nichts raste Amanda durch das Chaos. Ihre Fer-de-Lance schlug Haken, schob sich in den Winkel zwischen Geraldine und dem Feind, als ob es der einfachste Move der Galaxis wäre. Drei präzise Schüsse. Keine Gnade. Kein Heldentum.
Nur Effizienz.

Geraldine hörte das Aufjaulen ihrer eigenen Hülle, spürte das Nachlassen des Drucks.
Der Feind explodierte. Und mit ihm – die Stille.

Sie lehnte sich zurück. Der Schweiß unter dem Kragen fühlte sich plötzlich kalt an.

„Du lebst noch?“ Amanda. Ruhiger jetzt.

„Gerade so.“

„Wie fühlt sich deine neue Königin jetzt an?“

Geraldine schwieg. Ihre Hand zitterte leicht auf dem Steuer.
„Wie eine Fremde.“

Kurze Pause.

„Das vergeht“, sagte Amanda.

„Oder es war nie richtig.“

Amanda atmete hörbar durch. „Du hast überlebt. Mit einem Schiff, das du nicht verstehst. Vielleicht ist das ein Anfang.“

Geraldine sah auf das Display. Die Corvette trieb in sicherem Abstand. Der Scanner leer.

„Vielleicht“, sagte sie leise.

Und Amanda – diesmal ohne Ironie – antwortete:
„Ich hab’s nicht gemacht, weil ich musste.“

Geraldine runzelte die Stirn.
„Warum dann?“

„Keine Ahnung. Vielleicht… weil ich wollte.“

Ein Funkgeräusch, dann war sie weg.

Quitt

Die Bar war leerer als am Vortag. Andere Musik, andere Schicht. Dieselben Schatten an den Wänden. Geraldine saß am Rand, nicht im Zentrum. Rücken zur Wand, Blick auf den Eingang. Alte Angewohnheit.

Amanda kam rein, als hätte sie sich nicht entscheiden müssen. Dieselbe Bewegung wie beim Startmanöver: direkt, funktional, präzise.
Sie trug den roten Anzug nicht mehr. Nur eine dunkle Jacke über einem schlichten Tanktop. Die Haare leicht zerzaust, so als hätte sie gerade ein Ventilatorfeld gequert, ohne langsamer zu werden.

„Du lebst noch. Überraschung“, sagte sie, kaum dass sie bei Geraldine ankam.

„Wiederhole das. Diesmal mit Emotion.“

„Ich hebe mir meine Tränen für richtige Verluste auf.“

Geraldine lachte. Nicht laut. Aber echt.

Sie bestellte zwei Drinks, ohne zu fragen. Amanda verzog keine Miene, als der Barkeeper sie abstellte. Nur ein Nicken.

Kurze Stille.

„Die Corvette ist zu schwer“, sagte Geraldine dann. „Oder ich bin zu langsam. Oder beides.“

Amanda nahm einen Schluck. „Oder du hast die Waffenkombi eines Amateurs.“

„Bitte?“

„Zwei feste Multis, ein Gimballed Beam – ehrlich? Wer rät dir sowas? YouTube-Relikte aus 3304?“

Geraldine verzog das Gesicht. „Ich wollte flexibel bleiben.“

„Du hast einen Panzer gebaut und versuchst ihn zu fliegen wie ein Scharfschützengewehr. Kein Wunder, dass du stolperst.“

„Hast du etwa einen besseren Build?“

„Nein. Ich hab ein besseres Verhältnis zur Realität.“ Amanda lehnte sich zurück. „Ich nehm, was funktioniert. Und ich hör auf das Schiff. Wenn’s träge ist, dann kämpf träge. Wenn’s schreit, dann brüll zurück.“

„Das ist dein Rat? Brüll zurück?“ Geraldine hob eine Braue.

„Besser als zu flüstern in einem Schiff, das ballern will.“

Stille. Dann musste Geraldine grinsen.
„Du bist kein schlechter Lehrer.“

Amanda zuckte die Schultern. „Ich bin kein Lehrer. Ich bin nur oft genug fast gestorben, um zu wissen, was nicht funktioniert.“

Noch ein Schluck. Die Gläser waren bald leer.

„Danke, dass du mich rausgeholt hast“, sagte Geraldine leise.

Amanda winkte ab. „War eh in der Nähe.“

„Nein, warst du nicht.“

Amanda sah sie an. Nicht scharf, nicht weich. Einfach nur offen. Für einen Moment fiel die Kontrolle.

„Ich hatte ein mieses Gefühl“, sagte sie. „Und ich hör auf meine miesen Gefühle. Meistens.“

„Ich hatte auch eins“, sagte Geraldine. „Aber ich bin trotzdem geflogen.“

„Das war dumm.“

„Ich weiß.“

Ein Moment. Dann wieder das alte Grinsen bei Amanda. „Aber wenigstens weißt du jetzt, dass dein Schildbooster Müll ist.“

Geraldine stöhnte. „Ich hab dir noch gar nicht die Hitzeverteilung gezeigt.“

„Tu das. Und wenn ich lache, überdenkst du alles.“

Sie blieben noch eine Stunde. Redeten über Waffen, alte Schiffe, einen Commander in Shinrarta, der seinen FSD rückwärts eingebaut hatte.
Aber die Technik war nur der Vorwand.

Was da zwischen ihnen passierte, war nicht waffenspezifisch.

Es war persönlich.
Und Geraldine wusste das.
Und Amanda wusste, dass sie es wusste.

Die Kabine

Sie verließen die Bar, als die Beleuchtung auf Nachtschaltung umsprang.
Die Gänge der Station waren stiller geworden. Nur vereinzelt huschten Schatten vorbei – Crewmitglieder, Wartungstechniker, Menschen auf dem Weg irgendwohin. Amanda und Geraldine gingen nebeneinander, ohne Zielvorgabe. Einfach in dieselbe Richtung.

„Noch ’ne Runde?“, fragte Amanda irgendwann.

„Ich hab was Besseres.“

Ein schiefer Blick. „Das klingt verdächtig.“

„Eine Kabine. Gemietet. Nur für mich.“ Geraldine zuckte mit den Schultern. „Ich docke manchmal an und bleib einfach da. Ist einfacher, wenn man nicht weiß, wohin.“

Amanda sagte nichts, nur ein knappes Nicken. Und sie ging mit.

Das Quartier lag in einem der äußeren Ringe – günstig, leise, funktional. Geraldine öffnete die Tür mit einem kurzen Fingerabdruckscan. Die Beleuchtung ging gedämpft an.

Drinnen war es schlicht: ein einzelnes Bett, ein Spind, ein Terminal, das längst abgeschaltet war. An der Wand hing nichts. Auf dem kleinen Sideboard lag nur ein silbernes Kettchen – scheinbar achtlos hingelegt, aber viel zu präsent, um Zufall zu sein.

Amanda sah es. Sagte aber nichts.

„Ich lass das Ding manchmal liegen. Damit es so aussieht, als würde jemand wohnen.“

„Tut jemand?“

„Manchmal.“

Amanda trat ein. Sie bewegte sich leise, aber mit der Selbstverständlichkeit von jemandem, der sich in jeder Umgebung zu Hause fühlt. Geraldine zog ihre Jacke aus und hängte sie an den einzigen Haken neben der Tür.

„Willst du was trinken?“, fragte sie.

„Nur, wenn’s keine philosophische Falltür aufmacht.“

„Wasser. Ohne Abgründe.“

Amanda grinste. Setzte sich aufs Bett, zog die Stiefel aus.
Geraldine tat es ihr gleich. Sie redeten nicht mehr über die Mission. Nicht über das Schiff. Nicht über die Angst. Alles, was gesagt werden musste, lag zwischen den Worten, die sie nicht aussprachen.

„Ich schnarche nicht“, sagte Amanda schließlich.

„Ich weck dich, wenn du’s doch tust.“

„Nur, wenn du’s charmant machst.“

„Ich kenne kein anderes Wort für Ohrfeige.“

Ein trockenes Lachen. Amanda schob sich ein Stück zur Seite. Geraldine legte sich daneben, ohne sich umzuziehen. Schulter an Schulter, getrennt durch drei Zentimeter und zwei Leben, die sich nie gesucht, aber irgendwie gefunden hatten.

Die Kabine war still. Das Licht dimmte sich automatisch.
Irgendwo draußen dockte ein Schiff an. Die Station vibrierte kurz – kaum spürbar.

Amanda sprach zuerst:
„Ich hätte nicht gedacht, dass du so jemand bist.“

„Was für jemand?“

„Der andere schlafen lässt. Statt wegzuschicken.“

Geraldine antwortete nicht sofort. Dann:
„Ich bin auch überrascht.“

„Positiv?“

„Kommt drauf an, ob du schnarchst.“

Amanda drehte sich zur Seite, den Rücken halb zu ihr. Nicht als Schutz – eher als Angebot. Eine Einladung zum Atmen.

Geraldine sah an die Decke. Und dann auf das silberne Fragment auf dem Board.
Vielleicht wusste sie nicht mehr, woher es kam. Aber in diesem Moment wusste sie, warum es da lag.

Es war der einzige Beweis, dass sie bleiben konnte. Zumindest eine Nacht lang.

Und dann war da diese Stille

Geraldine wachte früher auf. Nicht abrupt, nicht panisch – einfach wach.
Die Beleuchtung im Raum war noch gedimmt. Neben ihr lag Amanda, ruhig, das Gesicht halb im Schatten, halb vom Licht der Statusanzeige am Türrahmen beleuchtet.

Sie war wirklich geblieben.

Geraldine drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Ihr Kopf war erstaunlich klar – zu klar vielleicht. Und wie ein Echo kehrten die Bilder zurück: der Einschlag, das Dröhnen der Warnsysteme, das Gefühl, dass alles zu schnell, zu schwer, zu groß gewesen war.

Corvette… du bist nicht meins.
Oder noch nicht.

Sie hasste diesen Gedanken.
Sie hatte Wochen damit verbracht, alles auf dieses Ziel auszurichten. Hatte gezählt, geplant, geschuftet.
Und jetzt lag sie da – mit dem teuersten, gefährlichsten Schiff, das sie je besessen hatte – und fragte sich, ob es ein Irrtum war.

Aber Amanda…
Amanda hatte kein einziges Wort darüber verloren. Kein „Ich hab’s dir gesagt“, kein „Vielleicht ist sie zu viel für dich“.
Stattdessen war sie einfach geblieben.

Geraldine richtete sich leise auf, zog die Decke über sich. Sie wollte Amanda nicht wecken.
Auf dem Sideboard stand ein Glas Wasser – neu. Amanda musste es hingestellt haben, irgendwann in der Nacht.

Daneben: ein Streifen Gewebepflaster.
Nicht beschriftet. Kein Kommentar. Nur hingelegt.

Geraldine sah es an, als wäre es eine Nachricht.
Vielleicht war es das.

Sie nahm das Glas, trank einen Schluck. Dann setzte sie sich an das kleine Terminal in der Ecke, klappte es auf, tippte ein paar Worte. Nur für sich. Nur zum Sortieren.

„Ich habe das stärkste Schiff, das ich je geflogen bin.
Und trotzdem war ich schwächer als je zuvor.
Vielleicht liegt es nicht am Schiff. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht weiß, wer ich bin, wenn ich drin sitze.
Aber ich weiß, wer ich bin, wenn sie da ist.“

Sie speicherte den Eintrag nicht. Schob ihn in den Papierkorb und schloss das Terminal.

Als sie sich wieder umdrehte, war Amanda wach.
Sie sagte nichts. Aber sie sah sie an.

Und in diesem Blick lag etwas, das kein Schild je stoppen würde.

Kapitel 10