Kapitel 13 – Die Ferne ruft

Leerlauf

Der Carrier schwebte lautlos über der dünn besiedelten Oberfläche eines Eisplaneten. Seine Lichter pulsierten träge im Rhythmus der Schiffssysteme, die selbst in absoluter Routine nie ganz schliefen. Geraldine saß in ihrer privaten Beobachtungskuppel, die sie sich auf dem oberen Deck hatte ausbauen lassen. Ein Panorama aus Metall, Glas und Kälte.

Draußen war nichts.
Und genau das war es, was sie im Moment brauchte.

Sie zog die Knie an, ließ den Blick über die Sterne wandern, die wie Nadeln durch das ewige Schwarz stachen. Kein neues Ziel, keine wartende Mission, keine Rangliste. Nur der Rest eines Kaffees, der langsam auskühlte, und ein Hologramm mit ihrem letzten Logeintrag – noch ungespeichert.

Sie hatte den Carrier – und mit ihm zum ersten Mal so etwas wie einen festen Punkt im Universum. Es fühlte sich seltsam an. Stabil. Beinahe langweilig.

Hin und wieder vibrierte das Deck, wenn eines der Schiffe andockte. Kleine Frachter, Kurierschiffe, eine Orca. Manchmal war es Amanda, die kam, ohne sich anzukündigen. Die schlief dann bei ihr, frühstückte halb angezogen in der Kajüte, sagte einen flapsigen Satz – und war wieder weg. Beide redeten selten über das, was das eigentlich war. Aber das war auch nicht nötig.

Geraldine hatte sich längst daran gewöhnt, dass Amanda nicht blieb.
Und sie selbst war gerade zu müde, um irgendwohin zu wollen.

An einem der Tage, die so gleichförmig ineinander übergingen, stand sie im Hangar vor ihrer neuen Cutter. Das Schiff wirkte fast arrogant zwischen den funktionalen Transportern und Nutzschiffen. Breit, schnell, kompromisslos. Geraldine hatte es kaum ausgeflogen – nur ein paar Gacrux-Missionen, das übliche Zeug. Die Lagerkisten stapelten sich noch auf halber Höhe im Frachtraum. Alles schien bereit, aber nichts war wirklich begonnen.

Sie stieg ein, ließ sich in den Pilotensitz sinken und startete die Systeme – nicht, um zu fliegen. Nur um das Brummen zu hören. Das Leben unter der Haut.
Die Displays fuhren hoch, das Licht wurde weicher.
Der Schubregler lag ruhig unter ihrer Hand.

Es war dieser Zustand zwischen allem.
Nicht auf dem Weg. Nicht angekommen.
Aber zum ersten Mal… in Sicherheit.

Gacrux – Piraten, Cutter, Erlösung

Die Sonne von Gacrux brannte orange durch das Cockpit, als Geraldine im Supercruise auf das Zielsystem zusteuerte. Eine Materialmission – einfach, gut bezahlt. Ein paar Container markieren, Frachtdrohnen steuern, zurück zum Carrier. Routine.

Sie lehnte sich zurück. Der Cutter flog stabil, lautlos. Keine Waffen an Bord. Nur das Nötigste, um schnell und effizient durchzukommen. Schilde, Hüllenverstärkung, volle Kühlung. Geschwindigkeit war ihr Schild.

Dann flackerte das HUD.
Ein roter Tunnel wuchs vor ihr auf.
Interdiction.

Geraldines Atem stockte. Reflexhaft. Der Griff um das Steuer wurde fester.

Nicht wieder. Nicht wie damals. Nicht wie im T9.

Sie aktivierte den Widerstandsmodus, konterte jede Bewegung. Doch der Gegner war gut – oder hatte Glück. Sekunden später brach der Tunnel zusammen, und die Cutter wurde aus dem Supercruise gerissen.

Der Raum sprang zurück in den Normalraum.
Und mit ihm eine Python – direkt vor ihr.

„Falscher Ort für ne Spritztour, Lady“, knarzte es über Funk.
Kein Scan. Keine Warnung. Nur gezogene Waffen.

Geraldine sagte nichts. Sie reagierte.

Kühlsysteme an. Schilde hoch. Schub auf Maximum.
Die Triebwerke rissen die Cutter in einen brutalen Bogen. Noch während die Python ihre Zielsysteme kalibrierte, war Geraldine längst auf dem Weg raus. Zwei Plasmasalven zischten vorbei, verloren sich im Vakuum. Die Cutter fegte in einer flachen Spirale davon – keine Pirouette, kein Gefecht. Nur Flucht mit Stil.

Drei Sekunden später: Frame Shift aktiv.
Ziel: irgendein Planet. Irgendein Fluchtpunkt.

Sie sprang.
Und mit ihr: die Erinnerung an damals.
Aber diesmal… war sie nicht geblieben.

Im Cockpit herrschte Stille, als sie in der Kurve des Hyperraums lag.
Geraldine ließ den Schubregler los. Schaute in das pulsierende Lichtfeld.

Und wusste:
Ich war nie machtlos. Ich hatte nur das falsche Schiff.

Sie lächelte schief. Kein Triumph. Kein Pathos.
Nur eine neue Gewissheit.

Gespräche, Gedanken, ein Funke

Der Hangar war ruhig, fast leer. Nur das entfernte Summen der Energieverteiler durchzog den Raum wie ein Atemzug des Schiffes. Geraldine saß auf einem der Versorgungscontainer an Deck 2, einen Kaffeebecher in der Hand, die Beine baumelnd. Über ihr ragte die Cutter auf, silbrig glänzend unter den gedimmten Deckscheinwerfern. Fast zu elegant für das, was sie war.

Amanda kam herein, ohne ein Wort. Wie so oft. Sie war gerade aus einem Patrouillenflug zurück, trug noch den halboffenen Pilotenanzug, Haar zerzaust, Blick wach.
„Du lebst also noch.“
„Mhm“, murmelte Geraldine. „War knapp.“

Amanda lehnte sich gegen die Reling, trank aus ihrer Flasche. Schweigen.
Dann, beiläufig:
„Hab heut einen Typen getroffen, der mit ’ner Ana unterwegs war. Exploration. 78 Lichtjahre Sprungreichweite. Kam grad aus dem Abyss zurück.“
Geraldine blickte auf.
„Allein?“
„Klar. Ein Jahr unterwegs, meinte er. Hatte alles an Bord. Werkbank, SLF, Pflanzen. Sogar ’n Aquarium, glaub ich.“

Geraldine schnaubte leise. „Verrückt.“
Amanda zuckte mit den Schultern. „Kommt drauf an, wie man’s sieht. Gibt Leute, die brauchen den Lärm. Und andere… die brauchen nur Raum.“

Es blieb still.
Amanda trank aus, grinste schief, und verschwand wieder.

Geraldine blieb sitzen.
Noch lange.

Sie begann, in den Tagen darauf Dinge zu tun, die sie früher überflüssig gefunden hätte. Las Foreneinträge über Moduleffizienz. Stöberte in alten Expeditionslogs. Aktivierte ihr altes Archiv, das sie seit Jahren nicht mehr angerührt hatte.
Sie klickte sich durch Bilder – Staubnebel, Kolonien, schwarze Sonnen.
Sah sich selbst, jung, in einer der ersten Anacondas. Der zweite Versuch. Gescheitert. Zu schwer. Zu träge. Zu… falsch.

Aber diesmal dachte sie anders.

Nicht als Kommandantin.
Sondern als Reisende.

Abends lag sie oft einfach nur in der Beobachtungskuppel. Sah dem Carrier beim Atmen zu. Und fragte sich, wie weit man fliegen konnte, ohne verloren zu gehen.

Vorbereitungen

Der Frachtraum des Carriers wirkte größer als sonst. Viele der Versorgungscontainer waren verschwunden. Geraldine hatte in den letzten Tagen systematisch Platz geschaffen – ganz offiziell zur „Optimierung der Lagerwege“. Aber jeder Techniker an Bord wusste: das hier war kein Frühjahrsputz.

Die Cutter stand am Rand der Plattform, unberührt. Geraldine saß auf einer der abgesenkten Wartungsluken, eine Werkzeugtasche neben sich, und sortierte Modulpläne auf ihrem Pad.

„Du schmeißt ganz schön viel raus“, sagte Amanda, ohne Vorwarnung.

Sie kam aus der Schattenschleuse, Haar noch feucht vom Duschen, die Flugjacke nur halb geschlossen. Geraldine blickte nicht auf.

„Ist überflüssig.“

Amanda hob eine Augenbraue, griff nach einem der Pläne.
„Ein 5A-Schildgenerator ist nicht überflüssig. Es sei denn, du willst ein fliegendes Wohnzimmer bauen.“

Geraldine zuckte mit den Schultern. „Vielleicht.“
Amanda ließ sich neben sie fallen. Es knirschte leise unter ihren Stiefeln.

„Also… was wird’s diesmal? Ein Forschungslabor? Botanikkapsel? Oder ’ne eigene Kirche im Laderaum?“

Geraldine grinste schief.
„Ich denk nach.“

Amanda sah sie an – lange, ohne zu blinzeln.
„Du hast das Ding schon gekauft, oder?“

Geraldine schwieg.

„Du hast mindestens drei Simulationen gerechnet. Du weißt, welches Schiff du willst. Du hast die Hangarmechanik prüfen lassen. Du redest nur nicht drüber, weil du Angst hast, dass es wieder falsch ist.“

Geraldine legte das Pad beiseite.
„Es ist anders diesmal.“

„Weiß ich.“ Amanda stand auf, ging ein paar Schritte. „Früher hast du Schiffe gekauft, um was zu erreichen. Jetzt willst du eins, um wegzukommen. Ist ’n Unterschied.“

Geraldine nickte.
„Und du? Was machst du, wenn ich einfach wegfliege?“

Amanda drehte sich nicht um.
„Ich weiß, wo du bist. Und wie man springt.“

Ein paar Sekunden Stille.
Dann kam sie zurück, hockte sich vor Geraldine hin, ganz nah. Ihre Stimme wurde weicher.

„Du bist nicht die Einzige, die manchmal rausmuss. Aber du bist eine von wenigen, die den Mut haben, es wirklich zu tun.“

Geraldine sah sie an.
„Wirst du mich vermissen?“

Amanda grinste.
„Nur deine Kaffeemaschine.“

Dann stand sie auf und ging.

Geraldine blieb zurück. Und wusste:
Es war Zeit.

Die Dritte

Sie flog allein.

Nicht, weil Amanda nicht hätte mitkommen wollen. Sondern weil Geraldine wusste: Das hier war ihr Moment. Keine Beratung. Keine Blicke von der Seite. Keine Stimmen, die abwägen. Nur sie und das, was sie sich lange nicht zugetraut hatte: eine Entscheidung, die nichts mehr beweisen musste.

Die Station lag im Orbit eines Gasriesen – Hightech, anonym, effizient. Ein Ort, an dem man alles kaufen konnte, wenn man wusste, was man suchte. Geraldine dockte die Cutter sauber an, ließ die Luftschleusen hinter sich schließen und trat mit festem Schritt ins Händlerdeck.

Sie sagte kein Wort. Ging direkt zu Terminal 7.

Dort stand sie.
Dritte Zeile.
„Anaconda – 146.000.000 Cr.“

Darunter: „Geeignet für Langstreckenflug. Optional: SLF-Hangar, Forschungseinheit, Wohnmodule.“

Geraldine tippte den Kaufcode ein. Kein Zögern. Kein Scrollen.

Der Bildschirm blinkte kurz.
Dann stand da: „Herzlichen Glückwunsch.“

Sie lehnte sich zurück, sah auf das Holo-Modell des Schiffes, das sich jetzt vor ihr drehte. Breit. Schwer. Bereit.
Doch diesmal war es kein Trumm. Kein Statussymbol. Keine Waffe.

Diesmal war es ein Versprechen.

Eine halbe Stunde später betrat sie das Cockpit.
Alles neu. Alles leer. Alles möglich.

Sie setzte sich, fuhr die Systeme hoch – und ließ den Sound des Startsequenz-Pings einen Moment auf sich wirken. Dann öffnete sie das Commenü und tippte eine Direktnachricht.

An: Amanda
Nachricht:
„Die Dritte steht. Diesmal keine Waffen. Nur Sprungreichweite und Platz für alles, was kommt. Ich hoffe, du hast noch Koordinaten übrig.“

Sie grinste. Und schob den Schubregler nach vorn.

Draußen drehte sich die Anaconda langsam vom Hangar weg.
Und im Inneren dieser Stille hörte sie es zum ersten Mal wieder ganz deutlich:
ihren eigenen Puls.

Sie war bereit.

Wirklich.
Diesmal – für die Ferne.

Kapitel 14