Kapitel 11 – Fünf Milliarden und ein Versprechen

Der Irrweg

Drei Millionen in sechs Stunden.

Geraldine sah die Zahl auf dem Transaktionsdisplay und hätte fast gelächelt. Fast.
Stattdessen schloss sie das Fenster, rief die nächste Handelsroute auf und überprüfte die Ladungskapazität ihres T9.

3000 Tonnen. Keine Verluste. Kein Piratenkontakt.
Reine Effizienz.

Sie war früh losgeflogen – wieder mal. Wenn man es überhaupt noch „früh“ nennen konnte. Schlaf hatte in ihrer aktuellen Realität keine definierte Tageszeit mehr. Es gab nur: Vor dem nächsten Sprung. Und: Danach.

Sie tippte neue Koordinaten ein, korrigierte für einen Marktumschwung in HIP 20567 und prüfte, ob sich die Hochpreisroute nach Akkatia noch lohnte.
Tat sie nicht. Drei Prozent Verlust.
Unbrauchbar.

„Fünf Milliarden“, murmelte sie. Der Satz hing im Cockpit wie ein Damoklesschwert mit Preisschild.

Sie hatte nicht damit gerechnet, wie sehr sie dieses Ziel auffressen würde.
Zuerst war es nur eine Idee gewesen.
Dann ein Traum.
Dann ein Plan.
Jetzt war es eine Obsession.

Ich will alles an einem Ort. Kein Chaos mehr. Keine verstreuten Schiffe. Keine verschollenen Dolphins.

Sie hatte heute Morgen versucht, sich an den Namen der Station zu erinnern, auf der die Beluga stand. Ihr fiel nur ein „CD… irgendwas“ ein.
Und Amanda?
War nicht da.

Seit dem Morgen nach dem Carrier-Gedanken war Funkstille. Keine Nachricht, kein Ping – von keiner Seite. Sie hätte schreiben können – wollte es sogar mehrfach. Aber immer, wenn der Cursor blinkte, fühlte es sich… peinlich an.
Zu persönlich.
Zu nah.

Also scrollte sie lieber durch Marktanalysen.

Der Laderaum füllte sich mit Medizinischer Ausrüstung. Nichts davon sah sie je aus der Nähe. Nur Zahlen, Werte, Gewinne.
Noch ein Flug. Noch ein Transfer. Noch eine Million.

Geraldine startete den nächsten Frame Shift Drive.

Die Sprunganimation blendete alles aus – das Cockpit, den Lärm, sogar Amanda.

Aber nur für eine Sekunde.

Ich dachte, wenn ich lange genug fliege, wird sie leiser in meinem Kopf.
Aber das Gegenteil ist passiert.
Jeder leere Sitzplatz erinnert mich daran, dass ich sie nicht gefragt habe, ob sie mitkommt.
Und dass sie trotzdem nicht gefragt hat, ob sie darf.

Sie landete. Verkauft. Drei Stationen weiter. Noch eine Million.

Drei Millionen in sechs Stunden.
Und es fühlte sich an, als würde sie stehen bleiben.

Der Hinweis

Die Bar war nicht voll, aber laut genug, um Gespräche zu verdecken, die man nicht führen sollte – und genau richtig, um die zu hören, die man besser ignorierte.

Geraldine saß allein am Tresen. Der Drink war schal, das Terminal flackerte, und ihr Konto zeigte eine Zahl, die nicht mehr frustrierte, sondern müde machte.

Eine knappe Milliarde.
Ein Fünftel.
Von einem Ziel, das nicht stillstand – sondern immer größer wurde, je länger man es ansah.

Zwei Hocker weiter redeten zwei Männer. Nicht laut, aber auch nicht leise genug. Der eine trug einen Handelsoverall mit ausgebeulten Taschen, der andere sah aus wie jemand, der jeden Tag zu wenig schläft und trotzdem zu viel weiß.

„…und dann hast du’s trotzdem gemacht?“, fragte der Erste.

„Klar. Hätt ich’s früher gewusst, wär ich schon längst dabei. Gacrux, Junge. Kein normaler Mining-Scheiß. Missionen. Gesicherte Boni. Die zahlen, als wären’s Politiker mit Nebeneinkünften.“

Geraldine hörte hin. Nicht auffällig – einfach nur wie jemand, der schon zu lange allein fliegt.

„Und der Haken?“, fragte der Erste.

„Fraktionen. Die wollen sich angebetet fühlen. Aber wenn du das einmal durchgespielt hast, bist du drin. Der Rest ist Materialbeschaffung und Routine.“

„Was verdient man?“

Der andere trank. „50 Millionen. Pro verdammter Lieferung.“

Geraldine hob den Blick.

„Entschuldigt“, sagte sie ruhig. „Hab ich das richtig gehört – Mining-Missionen mit fünfzig Millionen Auszahlung?“

Die beiden sahen sie an. Keine Überraschung. Offenbar war sie nicht die Erste, die sich so reingehängt hatte.

„Wenn du’s brauchst“, sagte der mit den Augenringen, „hör halt richtig zu.“

Geraldine stand auf, kam näher. „Ich hör zu. Sag nur, ob’s stimmt.“

„Mehr oder weniger. Du brauchst Zugang zu drei Fraktionen in Gacrux. Der Verbund teilt Ressourcen, aber die Missionen sind fraktionsgebunden. Du musst ein bisschen schleimen – dann kriegst du Zugriff auf Zielmaterialien, die du sogar kaufen kannst. Rest ist Logistik.“

„Und das lohnt sich?“

Der Händler nickte. „Wenn du’s ernst meinst. Wenn du den Arsch in den T9 kriegst und bereit bist, jede verdammte Lieferung zu fliegen, bis du nicht mehr weißt, wo oben ist – dann ja.“

Geraldine schnaubte leise. „Klingt wie eine Therapie für Kontrollfreaks.“

„Ist es auch.“

Sie wollte schon wieder gehen, als der mit den Augenringen sie musterte.

„Sag mal… was will jemand wie du eigentlich mit so viel Geld?“

Sie hielt inne. Dachte kurz darüber nach, zu lügen. Etwas Einfaches zu sagen.
Ein neues Schiff. Ein Sicherheitspuffer. Eine neue Lackierung.

Aber dann sagte sie:

„Ein Carrier.“

Der Satz war ruhig. Fest. Und neu.

Der Typ schnaubte leise, aber ohne Spott.

„Na dann viel Spaß. Weißt du, was das Ding kostet?“

„Fünf Milliarden.“

„Nein“, sagte er. „Fünf ist der Witz. Wenn du’s ernst meinst – 6,5. Mindestens.“

Sie sagte nichts. Nur ein Nicken.

Er grinste schräg. „Dann fang an zu fliegen. Du wirst keine Zeit mehr haben für was anderes.“

Geraldine sah ihn einen Moment an.
Dann drehte sich um und ging – schneller als geplant, aber mit einer Klarheit, die sie vorher nicht hatte.

Das war das erste Mal, dass sie es ausgesprochen hatte.
Und es klang… nicht lächerlich.
Es klang nach einem Ziel.

Im Verbund

Gacrux war… unübersichtlich.
Dutzende Fraktionen, verteilte Anlaufpunkte, bunte Logos, konkurrierende Missionsboards – und mittendrin Menschen, die keine Zeit für Smalltalk hatten.

Geraldine hatte beim Einflug das Gefühl, in eine gut geölte Maschine zu geraten – aber niemand hatte ihr gesagt, wo sie reinpassen sollte. Kein Briefing, kein Willkommen. Nur Aufträge. Materiallisten. Fristen. Bonuszahlungen.

Sie landete auf einer orbitalen Station, die so klang, als hätte ein Zufallsgenerator sie benannt. Irgendein „Hub“. Irgendein „Exchange“.
Doch kaum war sie im Inneren, sah sie sie: die Gruppe.

Sechs Leute standen eng am Board. Drei Männer, zwei Frauen, ein schlanker Typ mit Tablet und Funkgerät, der aussah, als würde er gleich die Börse öffnen.

Einer der Männer winkte sie heran. „Bist du neu oder neugierig?“

„Beides“, sagte Geraldine.

„Gute Antwort.“ Er grinste. „Du hast einen T9?“

„Ja.“

„Du fliegst allein?“

„Ja.“

„Du redest wenig?“

„Kommt auf die Leute an.“

„Passt.“ Er tippte auf sein Gerät. „Wir fliegen H7-Missionen. Fokus heute auf Gallium und Indium. Bezieh’s im Vorfeld, Missionsannahme läuft nach Zuteilung, wir teilen das Zielsystem, du kriegst deinen Slot.“

Eine der Frauen, dunkelhaarig, mit durchdringendem Blick und leiser Stimme, nickte ihr zu. „Du bist keine von den üblichen Profijägern.“

„Was bin ich dann?“

„Zielorientiert mit Schlafmangel.“

Geraldine schnaubte leise. „Kommt hin.“

Sie wurde aufgenommen, ohne Willkommen. Eingebunden, ohne Vertrag.
Alles funktionierte.

Sie flog die erste Mission noch vorsichtig – zwei Systeme, dreimal Docken, fünf Lieferungen. 19,6 Millionen. Netto.

Die zweite lief besser. Die dritte wie am Fließband.

Nach dem fünften Tag kannte sie die meisten beim Codenamen. Niemand fragte viel. Niemand erwartete viel.

Das hier war kein Team.
Es war ein Schwarm.
Jeder flog, weil er wusste, dass die anderen flogen.
Und irgendwie trug das alles sich selbst.

Geraldine blieb distanziert – und effizient.
Sie aß zwischen den Landungen, schlief im Pilotensitz, sortierte ihre Frachtrouten nach Bonusfarbe.

Und nachts, wenn sie nicht flog, sah sie manchmal auf ihr Konto.
Und dann auf die leere Nachrichtenseite, wo Amandas Name nicht auftauchte.

Und trotzdem:

Sie war näher dran als je zuvor.
An ihrem Ziel.
Und vielleicht an etwas anderem, das sie nicht benennen wollte.

Druckzone

Die Tage wurden kürzer. Nicht weil die Zeit sich veränderte, sondern weil Geraldine sie sich nahm – in Stücken, in Sekunden, zwischen Docking-Scans und Transaktionslogs.

Sie schlief im Pilotensitz.
Sie aß, wenn das HUD es erlaubte.
Sie atmete durch, wenn das Missionsboard gerade keine neuen Ziele hatte.

Drei Lieferungen. Vier Systeme. Rückflug. Auftanken. Neue Ladung.
Noch ein Ziel. Noch eine Runde.
Los.

Ihr T9 hielt durch. Knarzend, schnaufend, wie ein treuer Muli, der wusste, dass jede Pause ihn die Existenz kosten konnte.
Sie hatte die Routen perfektioniert, die Landeanflüge beschleunigt, die Materialbeschaffung automatisiert – so gut es eben ging.

Effizienz ist kein Ziel. Es ist ein Zustand zwischen Selbstbetrug und Stillstand.

Und Amanda?
Keine Nachricht. Keine Stimme. Keine Silbe.

Bis eines Nachmittags.
Sie war gerade im Anflug auf Doring Port, das Triebwerk glühte, der Frachtraum war voll – da vibrierte das Terminal.

1 ungelesene Nachricht.

Absender: Unbekannt
Betreff:

Nur ein Satz:

„Du bist schneller als dein Schatten. Aber pass auf, dass du ihn nicht verlierst.“

Geraldine starrte auf die Worte, als wären sie aus einer anderen Realität.
Kein Name. Kein Emoji. Keine Signatur.
Aber sie wusste, wer es war.
Weil niemand sonst wusste, wie sich das anfühlte.

Sie wollte antworten. Kurz. Etwas sagen.
Aber der Anflug blinkte auf. Andockfreigabe 03.

Sie speicherte die Nachricht. Ließ sie dort liegen, wie ein Beweis dafür, dass etwas noch existierte – außerhalb von Tonnen und Margen.

Ich fliege nicht, weil ich kann.
Ich fliege, weil ich muss.
Und manchmal vergesse ich, wohin.

Die Tage verstrichen, Wochen vergingen – die Zahlen stiegen, die Müdigkeit auch. Nur die Laune blieb liegen.

Sie sprach mit niemandem. Sie ignorierte Funksprüche.
Sie rechnete nicht mehr. Sie flog. Und flog.

Bis sie irgendwann wusste:
Es reicht.

Zurück

Sie dockte an wie immer. Automatisiert. Routinierter als gesund.
Ein letzter Schub, ein Zischen, ein Vibrieren im Rumpf – dann war der Flug vorbei. Der letzte. Für jetzt.

Geraldine schloss die Systeme, zog die Handschuhe aus, rieb sich die Stirn.
Sie roch nach Öl, nach Metall, nach zu vielen Tagen ohne richtigen Schlaf.
Aber in ihrem Nacken: Ruhe.

Sie wusste es.
Sie hatte genug.

Sie stand auf, langsam. Bewegungen, die sich fremd anfühlten. Beine, die sie kaum noch benutzte, außer zum Treten aufs Pedal.

Die Stationsgänge wirkten ungewohnt hell. Sie blinzelte. Suchte nichts.
Und fand Amanda.

Sie lehnte an der Wand, neben einer dieser Wandkonsole, als wäre sie schon Stunden da. Keine Geste. Kein Grinsen. Nur Blickkontakt.

Geraldine blieb stehen. Keinen Meter davor.

„Du hast dich nicht gemeldet“, sagte sie.

Amanda zog eine Braue hoch. „Du auch nicht.“

Geraldine wollte etwas sagen. Eine Erklärung, vielleicht sogar eine Entschuldigung.

Amanda kam ihr zuvor. „Ich wusste, was du tust. Ich wollte nur wissen, ob du’s allein tun willst.“

Stille.
Dann ein Nicken.

„Ich musste das schaffen“, sagte Geraldine leise.

„Ich weiß.“

„Aber ich hab dich vermisst.“

Amanda sah sie an, ohne zu blinzeln.
„Ich hab dich nicht vermisst, weil du weg warst. Ich hab dich vermisst, weil du dich verschluckt hast an deinem Ehrgeiz.“

Geraldine lachte – müde, aber ehrlich.
„Ich wollte dir zeigen, dass ich’s allein kann.“

„Das wusste ich schon. Ich wollte nur wissen, ob du irgendwann willst, dass ich da bin.“

Ein Moment. Kein Geräusch. Nur die Nähe zwischen zwei Menschen, die sich längst mehr bedeuten, als sie je sagen würden.

Dann kam der Satz.

Geraldine sah sie an, atmete einmal tief durch, und sagte:

„Ich hab’s geschafft. Ich will so ein Ding.“

Amanda schnaubte. „Endlich. Ich dachte schon, du willst den T9 heiraten.“

„Er hat immerhin durchgehalten.“

„Ich auch.“

Geraldine lächelte.

Und für einen Moment wusste sie,
dass das hier mehr war als ein Ziel.
Es war eine Entscheidung.

Kapitel 12