Kapitel 4 – Ich bestimme jetzt, was durchbrennt

Ich hab jetzt mehr Reichweite als Plan

Es war still, als Geraldine Deciat verließ.
Nicht wegen des Vakuums da draußen. Sondern weil sie selbst keine Worte fand.

Felicity Farseer hatte ihr etwas mitgegeben – mehr als nur technische Modifikationen. Aber Sympathie war das nicht gewesen. Geraldine hatte sie nicht gemocht.
Zu freundlich. Zu ruhig. Zu… uneindeutig.
Einer dieser Menschen, bei denen man nie wusste, ob sie einem gleich Tee anbieten oder einen Scanner ins Brustbein jagen würden.

Aber sie verstand ihr Handwerk. Ohne Zweifel.

Und jetzt?
Jetzt saß Geraldine in einer Dolphin, die sich anfühlte wie ein Projektil auf Warp.

Die Entscheidung zum Kauf war spontan gewesen – fast albern.
Passagierflüge! Warum nicht? Klang harmlos. Klang bequem. Vielleicht würde sie sogar Trinkgeld kassieren.
Natürlich tat sie das nie.

Aber das Schiff flog sich gut.
Schnell. Glatt. Elegant wie eine Raumyacht im Tarnmodus.
Und nach Farseers Eingriff war sie kein Schiff mehr – sie war ein Versprechen.

Geraldine hatte dem ganzen Optimierungsprozess skeptisch beigewohnt. Farseer redete von Leermasse, Emissionswerten, Wärmeverläufen. Geraldine verstand davon ungefähr so viel wie von Operngesang, nickte aber gelegentlich, als hätte sie die Formel erfunden.

Dann kam der Moment.
Ein Bildschirm, eine Zahl – eine Reichweite, die absurd war.

Es war mehr als eine technische Größe.
Es war ein Horizont.

Ein paar Tage später, irgendwo im Randbereich von HR 1183, piepte das Terminal.
Nachricht: Einladung erhalten – Elvira Martuuk.

Geraldine las die Zeilen zweimal, schnaubte leise.
„Na klar. Jetzt wollen sie mich alle.“

Elvira… der Name war ihr schon begegnet. Schilde, Energie, FSD-Kram. Zugang nur auf Empfehlung. Vermutlich hatte Farseer etwas weitergeleitet. Oder einfach gespürt, dass Geraldine bereit war.

Sie schloss die Nachricht. Nicht aus Desinteresse.
Nur weil sie es sich aufheben wollte. Wie einen Stein auf einem neuen Weg.

Noch war alles offen.

Sie sah durch das Cockpitglas ihrer Dolphin.
Volle Tanks. Lächerlich hohe Reichweite. Kein Ziel. Keine Verpflichtung.

Geraldine grinste.

„Ich hab jetzt mehr Reichweite als Plan“, murmelte sie.
Und für einen Moment fühlte sich das nicht wie ein Mangel an –
sondern wie Freiheit.

Nur mal fliegen. Ohne Grund.

Nach dem Umbau bei Farseer war die Dolphin ein anderes Schiff geworden.
Nicht schneller. Nicht hübscher.
Aber bereit.

Wofür, das wusste Geraldine selbst nicht genau.
Also flog sie einfach.
Ohne Ziel. Ohne Eile. Ohne Kontext.

Sie saß im Cockpit, die Beine lässig über dem Pedalrahmen ausgestreckt, den Blick auf die Sterne gerichtet. Beim Sprung wurden sie zu Linien, wie Pinselstriche in Schwarz.
Keine Fracht. Kein Kunde. Kein Countdown.
Nur Stille. Und Geschwindigkeit.

Sie landete auf einer Station am Rand von HR 1311, die selbst keinen Namen trug.
Kein Handel. Keine Besonderheiten. Nur ein Anflugwinkel, der ihr gefiel.
Sie setzte manuell auf.
Perfekt.

Kein Funkkontakt. Kein Empfang.
Und genau das machte es schön.

Sie blieb über Nacht.
Nicht, weil sie musste.
Sondern weil sie konnte.

Am nächsten Tag aber… da machte sie einen Fehler.
Ein Passagierauftrag.
Ein kultiviertes Ehepaar mit zu viel GalNET und zu wenig Realitätssinn.
Die Frau bestand auf gedimmter Beleuchtung, der Mann erklärte ihr jedes Menü im Navigationssystem – als säße sie zum ersten Mal in einem Schiff.

Nach drei Sprüngen hatte Geraldine genug.
Sie setzte auf irgendeinem Außenposten auf, der selbst dem Schiffsnamen egal war, ließ das Paar aussteigen, übergab die halbe Bezahlung – und verschwand.
Kein Wort. Kein Blick zurück.

Das Passagiermodul baute sie sofort wieder aus.
Aber die Dolphin behielt sie.

Es war das erste Mal, dass sie ein Schiff nicht hatte, weil sie es brauchte.
Nicht für Profit. Nicht als Mittel zum Zweck.
Sondern einfach, weil sie es wollte.

Die Dolphin war ihr Schiff für diese Art von Flügen:
Die, bei denen nichts passieren muss.
Die, bei denen man sich erlaubt, in der Umlaufbahn zu bleiben – einfach weil der Planet hübsch ist.

Früher hätte sie sich das nicht leisten können.
Heute konnte sie sich leisten, es zu genießen.

Geraldine lehnte sich im Sitz zurück, sah durch das Cockpit – leer, still, schön.
Das hier bringt mich nicht voran, dachte sie. Aber es bringt mich runter.

Sie parkte die Dolphin später auf Lave Hub, in einem halb vergessenen Hangar.
Routineflug. Kein Grund zu bleiben.
Aber sie blieb trotzdem.

Beim Aussteigen strich sie mit den Fingern über die Innenverkleidung neben der Einstiegsluke.
Keine Gravur. Kein Name. Kein Schnickschnack.

Nur dieses Gefühl.
Dass sie hier wieder einsteigen würde.
Immer wieder.

Sie sagte nichts.
Aber in ihrem Kopf formte sich ein leiser Gedanke:

Dich behalt ich. Solange ich fliegen kann.

Einmal Keelback. Und bitte wieder zurück.

Die Keelback war ein Missverständnis.
Eins, das Geraldine selbst eingeleitet hatte. Mit offenen Augen – und zu viel Leerlauf im Kopf.

Wakata City. Sie hatte durch die Schiffsliste gescrollt, ohne Absicht, ohne Ziel.
Dann klickte sie.
Keelback.

Sie wusste nicht genau, warum. Vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, etwas zu brauchen.
Nicht zur Verbesserung. Nur zum Wechseln.

Die Keelback war bullig.
Wie ein zu kurz geratener Frachter mit zu breiten Schultern.
Zwei klobige Türme an der Seite. Flanken wie Beton.
Das Cockpit wirkte mehr wie eine kleine Kommandobrücke – kompakt, aber herrisch.

„Sieht aus wie jemand, der Nein sagt, bevor du überhaupt gefragt hast“, murmelte sie beim ersten Anblick.
Das gefiel ihr.

Sie flog das Schiff testweise leer.
Einmal durch ein paar Systeme.
Ein bisschen Fracht. Ein paar Monde. Ein Datenpaket, das so spannend war wie ein leerer Container.
Aber immerhin war sie unterwegs.

Die Keelback flog schwerfällig – aber stabil.
Als würde sie sagen: Du kannst mich schlagen, aber ich fall nicht gleich auseinander.

Geraldine mochte das. Zuerst.

Doch je länger sie flog, desto klarer wurde ihr, was fehlte.
Tempo. Resonanz. Nähe.

An einem Abend, irgendwo auf LFT 142, saß sie in einem abgelegenen Hangar und betrachtete das Schiff durch die Glasscheibe.

Es erinnerte sie an etwas.
Etwas Altes.

Ein Raum im Schatten. Kalte Möbel. Ein riesiger Sessel, in dem sie als Kind fast verschwand.
„Das ist dein Zimmer. Und das ist dein Sessel.“
Die Stimme war freundlich. Aber nicht liebevoll.
Nur korrekt.

Sie erinnerte sich daran, wie sie damals nicht wusste, was sie mit dem Sessel anfangen sollte.
Zu groß. Zu fremd.
Und irgendwann einfach stehen ließ.

Ein Piepen unterbrach den Gedanken.

Angebot. Barzahlung. Guter Preis.

Ein Händler, der glaubte, sie hätte sich übernommen.
Der meinte, sie wolle sicher ihre Adder zurück.
Geraldine grinste.
Und verkaufte.

Mit Gewinn.

Als sie den Hangar verließ, hatte sie nichts mehr in der Hand.
Aber etwas Entscheidendes im Kopf:
Instinkt. Überblick.
Und das Gefühl, zu wissen, wann man loslässt – bevor etwas zur Last wird.

Ich nehm nur noch, was mir passt.

Der Broker-Rang kam ohne Fanfare.

Handelsrang aktualisiert: Händler – Makler
Kein Trommelwirbel. Kein Feuerwerk. Nur eine schlichte Zeile im Missionsmenü.
Geraldine starrte einen Moment auf den Text, dann zuckte sie mit den Schultern.

„Makler“, murmelte sie.
„Klingt wie jemand, der Deals macht, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.“

Sie lehnte sich im Sitz zurück. Und doch – irgendwas in ihr grinste.

Denn die Wahrheit war:
Sie konnte sich’s leisten.

Die letzten Monate hatten sich gelohnt.
Nicht durch Zufall. Nicht durch Zufälle. Sondern durch System.

Sie hatte gehandelt, gescannt, verkauft.
Nicht wahllos – nur das, was Sinn ergab.
Was gut bezahlt wurde.
Oder sich einfach richtig anfühlte.

Sie hatte gelernt, Nein zu sagen.
Zu Missionen, die nach Ärger rochen.
Zu Auftraggebern, die sie von oben her betrachteten.
Zu Stationen, die sich wie ein halber Nervenzusammenbruch anfühlten.

Und es fühlte sich nicht an wie Verweigerung.
Es fühlte sich an wie Freiheit.

Einmal saß sie in einem Außenposten bei LTT 825, ließ das Terminal hochfahren –
und klickte drei Missionen einfach weg.
Ohne Grund. Ohne Entschuldigung.
Einfach, weil sie nicht wollte.

Ein anderes Mal starrte sie auf einen Auftrag, der klang wie ein Suizidversuch mit Ansage:
Dringende Lieferung von Explosivstoffen in Konfliktzone. Zeitlimit 6 Minuten. Zielstation ohne Landeautomatik.

Geraldine schnaubte.
„Na klar. Und auf dem Rückflug hol ich noch deine Mutter von der Raumfähre.“

Sie klickte auf Ablehnen.
Langsam. Mit Genuss.

Dann bestellte sie sich einen Drink, setzte sich ans Fenster der Station und beobachtete die Landungen.
Keine Pläne. Kein Ziel.
Nur dieses leise Ziehen irgendwo im Brustkorb – wie Vorfreude auf etwas, das noch keinen Namen hatte.

Später, zurück im Cockpit, fuhr das System ohne Fehler hoch.
Der Tank war voll. Die Anzeigen ruhig.
Alles lief rund.

Geraldine sah hinaus.

„Ich flieg nicht mehr, um wegzukommen“, sagte sie leise.
„Ich flieg, weil ich’s will.“

Und das änderte alles.

Wie tief willst du rein?

Es war einer dieser Abende, an denen man bleibt, weil das Licht gut ist.
Nicht weil es schön wäre. Sondern gleichmäßig. Ruhig flackernd.
Wie der Puls eines Systems, das nie ganz schläft.

Geraldine saß im Aufenthaltsraum von Cheranovsky City.
Terminal auf dem Schoß. Drink in der Hand.
Keine Ahnung, wonach sie suchte.

Dann setzte er sich einfach dazu.
Kein Gruß. Kein Zögern.

Mittvierziger. Bart wie ein Schaltkreis.
Blick halb leer, halb zu voll mit Dingen, die explodiert waren.
Anzug fleckig. Schuhe zu teuer für den Rest seiner Erscheinung.

„Du fliegst solo“, sagte er. Keine Frage.

Geraldine hob eine Braue.
„Und du sprichst Leute an, die nicht gefragt haben.“

Er grinste schief.
„Schon mal über Mining nachgedacht?“

Sie wollte abwinken.
Doch sein Tonfall hielt sie fest.
Nicht werbend. Nicht aufdringlich.
Eher wie jemand, der weiß, was man braucht, bevor man’s selbst tut.

„Lass mich raten“, sagte sie.
„Frachtkrams, Heliumblasen, Staub in den Filtern – und am Ende geht der Laderaum kaputt.“

„Nicht ganz.“
Er zog ein Datenpad hervor, tippte, reichte es ihr.

Rohstoff: Tieftemperatur-Diamanten
Durchschnittspreis: absurd
Gewinnspanne: gefährlich
Methode: Lasermining

Geraldine blätterte.
„Erklär’s mir. Aber in Sätzen ohne ‚optimaler Bohrwinkel‘.“

Er lehnte sich zurück.
„Normales Mining? Laser aufs Gestein, Splitter einsammeln.
Stabil. Langweilig.“

„Dann gibt’s Abrasionsblaster – wenn was raushängt.
Deep Core? Für Leute mit Hang zu innerer Zerstörung.“

„Aber die Tieftemperatur-Diamanten…“
Er hob das Glas. Nahm einen kleinen Schluck.
„Kein Trick. Nur Laser. Aber du brauchst die richtigen Ringe. Die richtigen Spots.
Und du musst zuerst da sein – bevor jemand anderes es ist.“

„Und dann?“

„Dann hoffen, dass du wieder rauskommst, bevor dich jemand scannt.“

Geraldine schwieg einen Moment.
Dann lehnte sie sich zurück. Lächelte leicht.

„Also langweilige Technik – aber hoher Puls.“

„Exakt.
Und du brauchst Platz.
Die Dinger stapeln sich nicht von selbst.“

Sie ließ den Blick schweifen. Zur Bar. Zum Boden. Zu ihm.
„Warum erzählst du mir das?“

Er zuckte mit den Schultern.
„Weil du aussiehst wie jemand, der’s nicht gleich vermasselt.
Und weil ich’s selbst nicht mehr mache. Rücken, Nerven, falscher Antrieb.“

Er stand auf.
„Wenn du’s tust – dann tu’s richtig.
Und mit was, das du kennst.“

Geraldine sah ihm nach. Lange.

Zwei Stunden später scrollte sie durch das Dockinventar.

Zum Verkauf verfügbar: Type-6 Transporter – Seriennummer AXS-2176-M
Vorbesitzer: Callen, G.

Sie starrte auf den Eintrag.
Alt. Verbeult. Vertraut.

Und genau das war’s.

Sie klickte Reservieren.
Ohne zu zögern.

Kapitel 5